Aufmerksamkeit: Ein Benutzerhandbuch zur Wachsamkeit
NÄHE - DISTANZ: Eine Einführung
Irit Rogoff: Eine Besetzung, ob militärisch oder zivil, überlebt man auf vielen verschiedenen Ebenen, auf unterschiedliche Art und Weise, mit unterschiedlichen Distanzen. Das Leid, von dem diejenigen heimgesucht werden, deren Freiheiten eingeschränkt sind, deren Bewegung blockiert wird und deren Leben bedroht ist, ist kaum vergleichbar mit den Zweifeln derjenigen, die in die Ausübung der Besetzung verwickelt oder durch Staatsangehörigkeit oder auf andere Weise mit ihr verbunden sind. Uns geht es hier um die Frage, wie die Besatzer eine Besetzung jenseits der einfachen Rhetorik des Widerstands wachsam überleben können. Bei einem solchen Überleben gibt es viele Ebenen; die Notwendigkeit, geistesgegenwärtig und wachsam zu sein, zu sehen, was wirklich vorgeht, die Notwendigkeit, es zu dokumentieren, die Notwendigkeit, eine Form zu finden, in der man das, was man sieht, in die eigene Arbeit aufnehmen kann – häufig auf versteckte und indirekte Weise. Manchmal ist man nahe an den Vorgängen, so nahe, dass jedes einzelne Detail im eigenen Bewusstsein registriert wird, und manchmal ist man entfernt, entfernt genug, um den größeren Rahmen dessen wahrnehmen zu können, auf das alles hinausläuft. Zu begreifen, dass eine Besetzung nicht nur diejenigen einengt, die besetzt werden, sondern auch diejenigen korrumpiert und erodiert, die besetzen. Die unterstellte Grenze zwischen Besetzer und Besetztem ist viel poröser und brüchiger als man meinen würde, und die Wachsamkeit dient dazu, diesen Zustand zu bewahren.
Meir Wigoder: Das Paradigma von Nähe und Distanz ermöglicht eine wachsame Lebensweise, weil es ein binäres Set von Bedingungen nebeneinander bestehen lässt: Wenn man ein Konfliktgebiet aufsucht, besteht die Notwendigkeit, die Dinge mit einer gewissen Gleichgültigkeit zu beobachten, um eine kritische Distanz zu wahren, gerade weil die Dinge so nah sind. Später, wenn man sich zu Hause an das erinnert, was man gesehen hat, entsteht im Prozess der Träumerei ein Gefühl der Nähe und der emotionalen Empathie, das auf der Erfahrung beruht, nicht mehr sichtbar anwesend in der Nähe zu sein. Aus einer noch größeren Distanz bildet das tägliche Funktionieren der Besetzung Muster, die tief in die Strukturen der Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Gesellschaft hineinreichen.
Nähe und Distanz ist ein vermittelnder Bereich, der sich im Raum des wachsamen Bewusstseins öffnet: Zwischen sehen und denken, beobachten und protokollieren, aufnehmen und ausstellen öffnet sich ein Bereich der Potenzialität, der nur intuitiv in der Bewegung und im Übergang realisiert werden kann. In visuellen Begriffen werden solche Räume durch die verschwommenen Randgebiete der Kriegszonen und die markierten, grenzähnlichen Sektionen zwischen dem Besetzter und dem besetzten Land repräsentiert.
Irit Rogoff: Die Gedanken und Bilder unserer Präsentation hier stellen eher einen Modus der Wachsamkeit her als einen Modus des Protestes oder des Widerstands; ein Beharren auf dem Sehen, ohne das Sehen zu einer mobilisierten Rhetorik zu machen.
ZEUGENAUSSAGE
Meir Wigoder: Der wachsame Protokollant von Kriegen und Besetzungen hat mit anderen traditionellen Formen von Zeugenaussagen die Notwendigkeit gemeinsam, am Schauplatz anwesend zu sein. Traditionelle Formen von Zeugenaussagen beruhen auf dem Sprechen in der ersten Person durch ein subjektives Bewusstsein, das über den Vorgang berichtet. Die wachsame Sensibilität beruht auf einem unpersönlichen Modus von Bewusstsein, das sich eine Depersonalisierung zu eigen macht: die Analyse von Ereignissen aus der Position einer Abwesenheit sollte nicht mit der Suche nach objektiven Protokollverfahren der liberalen humanistischen Photographie verwechselt werden, und auch nicht mit den Methoden sozial betroffener Berichterstattung, die uns aus der Position der „Fliege an der Wand“ voller Empathie mit den Schmerzen der anderen konfrontieren. Der wachsame Bewusstseinszustand ist vielmehr auf die forensischen Beweise der Schauplätze eingestellt, die Bedeutungen freilegen, die ansonsten von den Maschinerien des Krieges und den Administrationen der Besetzer verborgen sind.
Die traditionelle Zeugenaussage sendet den Angesprochenen eine unterschwellige Botschaft; sie sagt, euer Privileg, das Ereignis zu sehen, beruht auf der Anwesenheit eines Zeugen auf dem Schauplatz. Die wachsame Botschaft dagegen sagt, sieh dir an, was vorgeht, weil du nicht dort bist. Die erste Methode strebt an, dass die Angesprochenen sich emotional mit den Ereignissen identifizieren, während die wachsame Herangehensweise sich auf ein kritisches Engagement stützt, das die Angesprochenen zu kritischen Detektiven macht, die einen kryptischen Text entziffern müssen.
Irit Rogoff: Einem Ereignis als Zeuge beiwohnen heißt nicht, seine Wahrheit zu besitzen, sondern eher, ihm Gesellschaft zu leisten. In einem wachsamen Modus wird der Zeuge zu einer Art Teilnehmer vom Spielfeldrand aus, und dazu gehört nicht so sehr Genauigkeit und Faktizität sondern vielmehr Beobachtung und Nähe. Der wachsame Beobachter ist Stellvertreter all derer, die nicht dort sind, die sich irgendwie vom Prozess des Beobachtens, Aufnehmens und Aufpassens gelöst haben. Ein Zeuge hat zwei Funktionen zu erfüllen; die eine besteht darin aufzupassen, darauf zu bestehen, dass man aufpassen muss, was geschieht, man muss es registrieren, man muss es in die Routine seines täglichen Lebens mitschleppen. Ich hörte, wie eine Freundin einer anderen sagte, einer anderen, die auch Wachsamkeit praktiziert, die an den Kontrollpunkten steht und die Untaten der israelischen Soldaten wöchentlich aufnimmt – ich hörte sie sagen, dass die Tatsache, dass sie die Brutalität und Rücksichtslosigkeit der Soldaten bei jeder Einladung zum Abendessen in Tel Aviv zur Sprache bringt, keinem anderem Zweck dient als dem, dass die Gäste sich schuldig fühlen. Es verändert nicht ihr Bewusstsein, es erweckt in ihnen nicht den Wunsch, mit ihr zu den Kontrollpunkten zu gehen, sie fühlen sich dadurch nur schuldig und sie fühlen sich angegriffen. Außerdem sagte sie, man müsse einen Teil seines Lebens für die Normalität wahren, man könne nicht, behauptete sie, jeden Augenblick in einem Zustand der Hyper-Bewusstheit der Tragödie leben, die um uns herum stattfindet. Aber als ich das hörte, dachte ich, man muss nichts behaupten oder fordern, man muss nur die Spuren dieser Ereignisse mitbringen, man muss sie wie ein Päckchen irgendwo am Esstisch liegenlassen und die Tatsache, dass man Zeuge ist, auf den Kopf stellen, zum Zeugen derer werden, die nicht Zeuge sind.
Die andere Funktion des Zeugen besteht darin, den traurigen Fakten Gesellschaft zu leisten. Wir fühlen uns verpflichtet, Vorgängen als Zeuge zu dienen, die meistens brutal, tragisch oder einfach traurig sind. Und Traurigkeit sollte Gesellschaft haben, sollte nicht in die Einsamkeit des Unbeobachteten verwiesen werden.
AUFMERKSAMKEIT
Meir Wigoder: Was die wachsame Aufmerksamkeit von der traditionellen Art und Weise, Zeuge von Ereignissen in der Gegenwart zu sein unterscheidet, ist die palimpsestartige Sensibilität: Die Gegenwart wird immer simultan mit der Kenntnis der Art und Weise gesehen, wie die selbe Szene in der Vergangenheit geprobt worden ist, und mit der Vorahnung der Art und Weise, wie sie in Zukunft wiederholt wird – ein solcher Zustand der simultanen Beobachtung, Reflexion und Antizipation führt zu einem allumfassenden, frei flottierenden Zustand der Angst, der dazu genutzt wird, die eigenen kritischen Fähigkeiten zu schärfen und einen guten sechsten Sinn zu entwickeln.
Aufmerksam sein heißt, mit der ständigen Mahnung zu leben, die Dinge zu erfassen, während man die Unfähigkeit zugibt, die politischen Ereignisse ändern und die Verletzungen der Menschenrechte stoppen zu können. Aber man begreift auch, dass das Leben ohne diese ständige Angst viel schlimmer ist – ein moralischer Tod und ein Selbstverlust.
Irit Rogoff: Ist es eine Form von Sensitivität, aufmerksam zu sein? Ist die Art und Weise, Dinge zu fühlen oder wahrzunehmen, intensiver? Ich denke immer mehr, es ist ein Mittel dagegen, durch die herrschenden Mächte in Angst und Panik versetzt zu werden – diese Mächte, die ihre Völker täglich in einen solchen Zustand von Furcht versetzen, dass sie nicht mehr denken können, die Ängste produzieren, die die Aggressionen rechtfertigen, zu denen sie sich schon lange entschlossen hatten. Dies geschah, wie Giorgio Agamben kürzlich dargelegt hat, indem man mit Sicherheitsdiskursen auf Gewalttaten reagierte. „Sicherheit als maßgebliches Instrument der Staatspolitik geht auf die Entstehung des modernen Staates zurück. Schon Hobbes erwähnt sie als Gegensatz zur Furcht, die die Menschen dazu zwingt, innerhalb einer Gesellschaft zusammenzukommen. Da Sicherheit ein maßgebliches Prinzip der Staatspolitik ist, … arbeitet die Politik heimlich auf die Herstellung von Notfällen hin, denen man sofort durch ein ständig wachsendes Streben nach und Abhängigkeit von Sicherheit begegnet. Heute, sagt Agamben, heute werden wir mit extremen und äußerst gefährlichen Entwicklungen im Sicherheitsdenken konfrontiert. Im Laufe einer schrittweisen Neutralisierung der Politik und der zunehmenden Preisgabe der traditionellen Aufgaben des Staates, wird die Sicherheit das grundlegende Prinzip des staatlichen Handelns. Ein Staat, dessen einzige Aufgabe und Legitimitätsbasis die Sicherheit ist, ist ein schwacher Organismus; er kann jederzeit durch Terroristen provoziert werden oder selbst terroristisch werden. Und so rauben wir dem Sicherheitsstaat die Aufmerksamkeit und geben sie denen zurück, die der Produktion von Angst mit wachsamer Ablehnung gegenüberstehen.
ERSCHÖPFUNG
Meir Wigoder: Das Leben in einer von Kriegen beherrschten Gesellschaft führt zu einem Zustand von Stress, der eine Einschränkung des Bewusstseins verursacht. Aber solche Zustände können auch zu erhöhter Aufmerksamkeit anregen, durch die das Bewusstsein befähigt wird, eine wichtige Einsicht zuzuspitzen, die man nicht gewonnen hätte, wenn man sich bewusst darauf konzentriert hätte. Dieser Zustand zerstreuter Bewusstheit erinnert an Theodor W. Adornos Definition <“oral-flaneurie? Und Adorno? Ist nicht Benjamin wahrscheinlicher?> des akustischen Flanierens: es ist das Geräusch der durcheinander kreischenden Frequenzen, das entsteht, wenn wir den Knopf von einem Sender zum anderen drehen. (Heute beschreiben wir das Zappen zwischen Fernsehsendern.)
Man muss sich ein kontinuierliches Summen vorstellen, eine Wellenlänge, auf der alle Übel des Krieges, die akustischen Bruchstücke des Terrors, die Presseerklärungen der Regierungen und die Daten der Menschenrechtsverletzungen, alle sind auf einem Bildschirm durcheinander gemischt, dessen Funktion es ist, den Ton zu dämpfen und unserem erschöpften Geist einen gewissen Schutz vor der aggressiv eindringenden Realität zu bieten, in der wir leben. Das wachsame Bewusstsein kann ein fast unmerkliches Signal wahrnehmen, das in einer unauslöschlichen Kadenz über dem Lärm aufsteigt und uns, wenn wir es am wenigsten erwarten, einen kristallisierenden Hinweis gibt, der uns zu einer kritischen Erkenntnis bringt, die man sonst in einer Gesellschaft nicht hätte gewinnen können, deren Lebensweise sich antithetisch zur Reflexion verhält und süchtig ist nach dem Lärm der aktuellen Talkshows, den Nachrichtenkorrespondenten, den Militärexperten und anderen Formen informativer Anreize, die der Krieg führenden Gesellschaft die pervers-verführerische und doch beruhigende Illusion vorgaukelt, am Leben zu sein.
Irit Rogoff: Wir sind erschöpft. Wir haben so lange protestiert, wir sind zu Protestmärschen und Demonstrationen gegangen, wir haben Petitionen unterschrieben, wir haben Bücher und Artikel geschrieben, haben so lange auf Kundgebungen und in Seminaren gesprochen, und doch scheint die Situation immer schlimmer zu werden. Wir sind erschöpft. Ist unsere Erschöpfung der Ausgangspunkt für eine neue Politik, eine künftige, noch nicht artikulierte Politik? Kann die Untätigkeit für ein anderes Modell der Verständigung mobilisiert werden? Die Erschöpfung scheint mir zunehmend darauf zu beruhen, dass es unmöglich ist, Partei zu ergreifen, eine Position zu finden, von der aus man sprechen kann, unmöglich, das zu artikulieren, was verurteilt werden soll. Es gab eine Zeit, in der die Leute um uns herum für den Frieden demonstrierten, und eine andere Zeit, in der sie gegen den Krieg demonstrierten. In unserem Zustand der Erschöpfung tritt die Unwahrscheinlichkeit beider Situationen klar zutage. Erschöpfung hat unseren Kriegsschauplatz in eine zeitgenössische erkenntnistheoretische Struktur verwandelt; wir haben kein Subjekt, wir haben keinen Plan und wir haben keine Methode. Wir wissen, dass in Momenten des Rückzugs vom aktiven Streben nach Wissen, von all dem empirischen Herumstöbern, von den schwebenden Ambitionen theoretischer Hypothesen, ein Moment des Erkennens künftiger Probleme liegt. Wir werden wachsam gegenüber unserer Erschöpfung sein … wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
WARTEN
Meir Wigoder: Die wachsame Aufnahme wird in drei Stadien geschaffen: Warten markiert die Notwendigkeit für einen Hiatus zwischen dem Moment, in dem das Ereignis aufgenommen wird, und der Entwicklung des Bildes (oder zwischen dem Moment, in dem man Zeuge des Ereignisses wird, und dem Schreiben des Berichts). Je länger man wartet, desto eher können optische unbewusste Aspekte Bedeutungen freisetzen, die der Aufnehmende zunächst nicht gesehen oder vorhergesehen hat. Das zweite Stadium, in dem die Aufnahme ungesehen und beiseite gelegt im Archiv ruht, bereitet auf die kritische Überprüfung des Bildes/Berichts vor, die im Kontext mit den politischen und sozialen Veränderungen gesehen werden müssen, die stattgefunden haben seit die Aufnahme gemacht wurde. Schließlich führt der Ablauf der Zeit zu einer wachsamen Kritik des Bildes/Berichts im Zusammenhang mit Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit anderen Konfliktsituationen der Welt. Das erinnert an Walter Benjamins Bemerkung: Man muss nach Moskau gehen, um Berlin zu kennen.
Das wartende Bild: Nicht die lange Belichtung, die wir dem Aufnahmevorgang der Landschaftsphotographie zuschreiben. Noch nicht einmal der frühe auratische Effekt, der nach Benjamin stattfindet, wenn die für das Porträt Posierenden während der langen Belichtungszeit allmählich auf dem Bild erscheinen. Stattdessen steigert ein Bild, das den Eindruck macht, die Zeit sei aus ihm herausgefiltert, die Erkenntnis des In-sich-selbst-seins der gezeigten Objekte. Solche Bilder erinnern an Benjamins Charakterisierung der Bilder Eugène Atgets von leeren Straßen in Paris: Diese Orte beschworen Tatorte herauf, die auf die Spurensicherung warteten und machten zum ersten Mal eine politische und kritische Lektüre der Photographie möglich.
Irit Rogoff: Warten und wollen, die Reihen von wartenden Menschen zeigen ihren Wunsch nach einem unaussprechlichen Etwas. Die Warteschlange hat keine narrative Struktur, sie ist wie die Raster von Baudrillard, eine Beziehung von Nähe zwischen Punkten oder Elementen. Kein Anfang und kein Ende, keine strukturierende Handlung, keine Rahmenerzählung und kein Auflösungspunkt. Sie bringt einen Begriff der Zeit hervor, die elastisch ist und sich unendlich ausdehnt, wie es Chantal Ackermann in ihrem Film D’Est faszinierend dargestellt hat. Die Struktur dieser Zeit ist statisch (aber nicht passiv), und obwohl sie die Form einer Linie annimmt, widersetzt sie sich einer gewissen Linearität des Fortschritts. Sie verkörpert einen Begriff der Geduld, der uns ein größeres Narrativ zum Bewusstsein bringt. Aber die Warteschlange ist für mich auch die stärkste Verkörperung der menschlichen Subjektivität als Begehren, der ich je begegnet bin. Als Begehren ist das menschliche Subjekt der Mangel, der sich selbst als Mangel zu überwinden versucht; die Endlichkeit, die nach Unsterblichkeit strebt; das Begrenzte auf der Suche nach dem Unbegrenzten; das einzelne Subjekt auf der Suche nach dem Absoluten. Wenn man das Begehren als zentral für die menschliche Erfahrung versteht, bedeutet das nicht, dass die Menschheit teleologisch auf das Ziel der Erfüllung ausgerichtet ist, sondern vielmehr, dass wir in der Benennung der Objekte unseres Begehrens etwas zu fixieren versuchen, was nicht fixierbar ist, in der Hoffnung, die Bedingung unserer Existenz zu transzendieren. Wenn menschlich sein also bedeutet zu begehren, dann kann kein benanntes Objekt die Dynamik des Begehrens aufhalten, das das menschliche Wesen ist.
Arkady Renko, der Held der Moskau-Trilogie von Martin Cruz Smith, ein typischer osteuropäischer Anti-Held, der die Exzesse des Kapitalismus und die Gräuel des Kommunismus ablehnt, steht mit seiner Assistentin, der Pathologin Polina auf einem Marktplatz, wo sie ansteht, um Rüben zu kaufen, und sie diskutieren die neusten Entwicklungen in einem Fall, bei dem es um eine Bombe geht.
„Das ist eine Guerilla-Technik, ich hätte das schneller verstanden, wenn die Laborresultate korrekt gewesen wären“, sagte Polina. „Man kann das Benzin mit Seife, Eiern oder Blut verdicken.“ „Also deswegen sind sie Mangelware“, sagte Arkady. Das Paar hinter Polina hörte aufmerksam zu. „Nehmen sie keine Eier“, warnte die Frau, „die Eier haben Salmonellen.“ Der Bürokrat widersprach: „Dies ist ein unbegründetes Gerücht, das von Leuten in die Welt gesetzt wurde, die alle Eier für sich haben wollen.“ Die Schlange rückte einen Schritt weiter vor. Polina trug offene Sandalen, aber sie hätte auch eine Gipsbüste sein können, so wenig reagierte sie auf den Regen, das Blut und die unsinnige Warterei. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die näher rückende Waage. Der Regen wurde stärker. „Verkaufen sie nach Gewicht oder nach Stückzahl?“, fragte sie ihre Nachbarn. „Meine Liebe“, sagte die alte Frau, „das hängt davon ab, ob sie mit der Waage schummeln oder zu wenig Rüben haben.“ „Gibt es auch Suppengrün?“ „Für Suppengrün gibt es eine andere Schlange.“ Schließlich werden der Regen, die Warterei und die Arbeit im Labor zuviel für Polina, und als sie an der Spitze der Schlange ist, wird sie ohnmächtig. Arkady bringt sie in eine nahe gelegene Klinik, die, wie sich herausstellt, eine Diätklinik für reiche Ausländer ist, die zum Hungern nach Moskau kommen, um abzunehmen. Interessiert fragen sie die Serviererin, die ihre schäbigen Moskauer Gestalten verächtlich betrachtet, was denn serviert wird. „Das kommt drauf an“, sagt sie und zieht an ihrer Zigarette, „ob sie auf einer Obst- oder Gemüsediät sind.“ „Eine Obstdiät?“ „Ananas, Papayas, Mangos, Bananen.“ Die Serviererin rasselt sie lässig herunter, als ob es gute Bekannte wären. “Papayas“, wiederholte Arkady, „Polina, du und ich würden für eine Papaya sieben oder acht Jahre Schlange stehen. Ich bin nicht einmal sicher, dass ich weiß, wie eine Papaya aussieht. Sie könnten mir eine Kartoffel geben und ich wäre wahrscheinlich glücklich.“
VERLEUGNUNG
Meir Wigoder: In Zeiten von Konflikten, die sich in die Länge ziehen, haben viele Gesellschaften das Bedürfnis zu beweisen, dass der Krieg ihre normalen Gewohnheiten des täglichen Lebens nicht ändert. Beirut in den 1970er Jahren, der Kosovo in den 1990ern und Tel Aviv am Beginn des 21. Jahrhunderts sind Beispiele dafür, wie die urbane Kultur und die Künste blühen können und gerade deshalb so vital sind, weil Tod und Gefahr so hautnahe Erfahrungen sind. Die Verleugnung von Kriegszustand, Besetzung und Terror verhält sich daher nicht zwangsläufig antithetisch zum politischen Bewusstsein und Engagement, sondern ist eine andere Form der Verarbeitung von traumatischen Ereignissen, die parallel zum alltäglichen Leben verläuft und dabei hilft, es weiter zu führen.
Die Verleugnung schließt die Möglichkeit, wachsam und alarmbereit zu sein, nicht vollständig aus. Sie kann, auf eine eher dialektische Art und Weise, eine Facette des wachsamen Bewusstseins selbst werden. In manchen Situationen kann die Verleugnung sich daraus entwickeln, dass der wachsame Beobachter sich zu sehr in die Mikro-Details des Konflikts verrennt und das größere Gesamtbild aus den Augen verliert. Eine Verleugnung findet dann statt, wenn die Nähe das Bewusstsein überwältigt (man wird von aktuellen Meinungsumschwüngen in den Medien oder der öffentlichen Hysterie oder an historischen kritischen Punkten emotional beeinflusst, und viele Menschen haben plötzlich das Bedürfnis, sich an frühere ideologische Überzeugungen zu klammern, die sie schon aufgegeben hatten). Dadurch wird jede Form von kritischer Distanz, die die Vorbedingung dafür ist, die Möglichkeiten wirklicher Veränderungen in der Zukunft zu erkennen, vorübergehend ausgeschaltet.
Irit Rogoff: Wir sind gut, sagen sie, wir wollen Frieden, sagen sie, wir sind human, sagen sie, wir sind demokratisch, sagen sie, wir verkörpern die europäischen Werte, sagen sie, wir haben eine geordnete Gesellschaft, sagen sie, unsere Besetzung ist längst nicht so brutal wie andere, sagen sie. WIR SIND BESSER. Wachsamkeit.
Meir Wigoder: Der wachsame Protokollant ist nicht mit einem einzelnen Dokument oder repräsentativen Bild zufrieden. Die Notwendigkeit, immer wieder zum selben Schauplatz zurückzukehren und die Veränderungen der Besetzung zu kontrollieren, ist charakteristisch für die im Kern obsessive Natur der Wachsamkeit. Ganz gleich wie viele Bilder, Aufnahmen, Statistiken und persönliche Berichte über einen bestimmten Zeitraum angesammelt werden, dem wachsamen Geist wird immer bewusst sein, was fehlt.
Wiederholung konditioniert die ontologische Existenz des wachsamen Bewusstseins, weil es immer auf die Entwicklung der Ereignisse eingestellt ist, die in eine ungewisse Zukunft führen, aus der der wachsame Mensch nie hervortreten wird – diese Art, über die Gegenwart zu berichten und sie zu analysieren unterscheidet sich grundsätzlich von erzählerischen Formen des Schreibens, für die Ereignisse im Mittelpunkt stehen, die in der Vergangenheit abgeschlossen wurden.
Irit Rogoff: Wachsamkeit – die einzige Art und Weise, eine Besetzung zu überleben. Hinsehen, wo wir die Augen abwenden möchten, zuhören, wo scheinbar nichts Verständliches zu hören ist, die Aufmerksamkeit konzentrieren, wenn scheinbar nur Zerstreuung verlangt wird. Wachsamkeit ist das Resultat von Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, sich zur Aufmerksamkeit zu zwingen, und als solche ist sie die stärkste politische Waffe, die uns zur Verfügung steht. Denn wenn wir aufmerksam sind, partizipieren wir an der Konstituierung des Anderen als Subjekt. Die Verleugnung des Anderen als Subjekt bildete immer einen Bestandteil des Kolonialismus, und seine Erosionen wurden durch ausgefeilte bürokratische Argumentationen und eine ebenso komplizierte Semantik herbeigeführt. Zu Beginn der zweiten Intifada, während die Städte des Westjordanlands unter Ausgangssperre standen und ihre Bewohner gezwungen wurden, mehr als 40 Tage lang hinter geschlossenen Türen zu leben, hörte ich auf dem Sender National Public Radio eine junge israelische Schülerin erklären, dies sei keine ‚Besetzung’, denn das Wort Besetzung bedeute eine endgültige Eroberung, während wir, wie sie sagte, diese Gebiete immer zurückgeben wollten. Wachsamkeit besteht vielleicht nicht so sehr im Aufzeichnen der Zustände der anderen, sondern darin, unseren eigenen Erosionen Aufmerksamkeit zu schenken.
WACHE - PRÄSENZ
Meir Wigoder: Es wird eine Geschichte über einen einsamen Demonstranten erzählt, der täglich vor dem Weißen Haus Wache stand, lange bevor die Anti-Kriegsbewegung gegen den Vietnamkrieg in den Vereinigten Staaten aufkam. Ganz gleich wie viele Menschen jeden Tag gleichgültig an ihm vorbeigingen oder ihm ausfällige Bemerkungen zuriefen, das stärkte nur seine Entschlossenheit, jeden Tag wiederzukommen und mit seinen Plakaten Wache zu stehen. Eines Tages war er über einen Passanten überrascht, der sich tatsächlich die Mühe machte, mit ihm zu sprechen. Der Fremde fragte, „Glauben Sie wirklich, Sie können das Geschehen ändern, wenn sie jeden Tag herkommen und demonstrieren?“ Nach einer Pause antwortete er mit sanfter Stimme, „Ich komme nicht immer wieder hierher, weil ich die Illusion habe, ich könnte den Krieg stoppen und das Geschehen beeinflussen – ich komme jeden Tag hierher, weil ich nicht will, dass die Regierung und das Geschehen mich beeinflussen.“
Machsom-Watch ist eine Frauenorganisation, deren Aktivistinnen sich vorgenommen haben, die israelischen Kontrollstellen in den besetzten Gebieten täglich zu kontrollieren. Wachsamkeit wird dabei zu einer Form von aktiver Präsenz, und die Frauen nutzen verschiedene Taktiken, um sich in die Arbeit der Soldaten einzumischen, sie zu stören und zu behindern. Frustriert über den Einsatz der Frauen, beschloss die Armee vor kurzem, an einigen Kontrollpunkten, eine weiße Linie auf dem Boden zu ziehen und das Wort „watch“ auf ein Schild zu schreiben, um die Frauen daran zu hindern, diese Abgrenzung zu überschreiten und die Soldaten zu stören. Diese Aktion bewirkte das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war. Sie mag zwar die Effizienz der Eingriffsmöglichkeiten der Frauen mindern, aber es ist für ihr Ansehen ein großer Schritt, weil ihre Gegenwart nun in den Raum der Kontrollstelle und in den Diskurs mit den Besetzern eingeschrieben ist, dem diese ausweichen wollten. Nun aber gibt es eine wachsame semiotische Präsenz, die, selbst wenn die Frauen nicht da sind, durch eine weiße Linie und ein Schild eingeschrieben ist. Dies lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Vorstellung des Blicks (beobachtet werden) und einen moralischen Standpunkt (man muss wachsam bleiben, weil man das Auge des Gewissens internalisieren muss), es verweist auch auf die Zeit (‚watch’), die dem tatsächlichen Bemühen der Frauen entspricht, den palästinensischen Passanten zu unbehinderten Reisemöglichkeiten zu verhelfen und ihnen lange Warteschlangen und Zeitverluste zu ersparen. Die weiße Linie kann auch im Zusammenhang mit einer weiteren grünen Linie gelesen werden, die die Soldaten auf den Boden gemalt haben, um den Abstand zu markieren, den die Palästinenser am Kontrollpunkt von ihnen einhalten sollen. Zwei Farben, grün und weiß (beide finden sich in der palästinensischen Flagge) sind jetzt in den räumlichen und zeitlichen Schauplatz der Kontrollstelle eingeschrieben, die der einzige Übergangsraum ist, in dem die Israelis und Palästinenser miteinander in Kontakt treten.
Irit Rogoff: Meine Freundin, der vorgeworfen wurde, mit ihren Leidesgeschichten so viele Abendeinladungen in Tel Aviv verdorben zu haben, hat eine Antwort für ihre Kritiker: „Es nicht so, dass ich diese unterhaltsamen Abende absichtlich verderben will“, sagt sie, „es ist nicht so, dass ich mit dem Plan hingehe, diese Geschichten zu erzählen und es jedem vorzuwerfen, dass er nicht so engagiert und wachsam ist wie ich. Es ist einfach so, dass es mich nicht loslässt. Ich sehe diese Geschichten in jedem Gesicht, das mir begegnet.“
Aus dem Englischen von Gabriele Ricke