Bereitschaft

Inmitten von Krankenwagen, Polizeifahrzeugen und Rettungspersonal liegt ein Mann regungslos auf dem Gehsteig. Sein Kopf ist mit blutigen Bandagen umwickelt, als ob er mumifiziert wäre; seine Gesichtszüge sind nicht zu erkennen, abgesehen von seinem Mund. Sein Körper, seltsam entspannt, liegt auf einer Krankentrage. Niemand kümmert sich um ihn, anscheinend ist er vor einiger Zeit auf der Trage hier her gebracht worden und dann plötzlich auf dem Asphalt abgestellt worden. Seine Arme sind im rechten Winkel von seinem Körper ausgestreckt, als ob er sich ergeben oder für ein Opfer bereit halten würde. Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter rennen um ihn herum, scheinen ihm aber keine Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz in der Nähe irrt eine große Frau mit einem blutigen Arm ziellos umher wie zwischen den Aufnahmen für einem Horrorfilm. Über den Köpfen schwebt ein Hubschrauber, an dem jemand vom Rettungsteam hängt. Hinter den Absperrungen steht glotzend die Menge der Zuschauer. Die Szene wirkt wie eine Hollywoodinszenierung. Alle bewegen sich in Zeitlupe, als ob sie für eine Rolle proben würden.

Wie sich herausstellt, ist dies tatsächlich eine Art probe. Es ist eine Übung – bei der in Echtzeit ein Terroranschlag simuliert werden soll. Das Ereignis wurde gemeinsam produziert vom San Diego's Metropolitan Medical Strike Team, der University of California in San Diego (UCSD) und dem California Institute for Telecommunications and Information Technology (CAL-IT2). Hinzugezogen wurde öffentliches Sicherheitspersonal von der Polizei und von der Feuerwehr, SWAT, HAZMAT, das Medical Response System und die UCSD – etwa zweihundert Beamte und Führungspersonen aus der Stadt und der Umgebung, sowie die Notärzte, Krankenschwestern und medizinisch-technischen Assistenten vom UCSD Medical Centeer. Der Pressemeldung zufolge sollten das Universitätsgebäude, bei dem dieser Anschlag stattfand (Atkinson Hall), zumindest an diesem Tag »die Frontlinie im Krieg gegen den Terrorismus simulieren«.

Als dies geplant wurde, hatte es den Anschein, dass solche Übungen für San Diego nicht ungewöhnlich waren, eine Stadt, die lange eines der wichtigsten militärischen Zentren des Landes war. Der Campus der Universität war einst selber eine Armeebasis, und militärische Einrichtungen waren in der Region reichlich vorhanden. Heute hat San Diego die größte Konzentration von Marineeinrichtungen auf der ganzen Welt. Es ist ein Hauptzentrum der für die Verteidigung produzierenden Industrie, Standort von Firmen, die Verträge mit dem Militär für Sicherheitssysteme, logistische Dienstleistungen, unbemannte Flugsysteme und das entsprechende Personal haben. San Diego ist auch eines der weltweiten Zentren für biotechnologische Forschung. Im Süden an die immer stärker militarisierte Grenze zu Mexiko und im Norden an Hollywood grenzend, ist der Campus in einzigartiger Weise in einer Region gelegen, die ein Hauptknotenpunkt des globalen Sicherheits- und Unterhaltungskomplexes ist. Wenn man all dies bedenkt, sollte man nicht überrascht sein, hier auf eine solche Terror-Simulation zu treffen. Es ist eher verwunderlich, dass solche Simulationen nicht öfter als Teil des Studiengangs an der Universität stattfinden.

DAS CAL-IT2 AN DER UCSD SUCHT EINIGE GUTE MÄNNER – UND FRAUEN – ALS FREIWILLIGE, UM DIE ROLLE VON OPFERN ZU SPIELEN. Wollen Sie ein »freiwilliges Opfer« werden? Sie müssen von 7 Uhr morgens bis 3 Uhr nachmittags an der Atkinson Hall sein, und Sie bekommen ein Gratis-T-Shirt und freie Verpflegung. Alle freiwilligen Opfer bekommen ein Verletzungs-Script und Anweisungen, wie sie sich desorientiert und panisch verhalten sollen. Einige Opfer werden vielleicht mit dem Rettungswagen oder einem Hubschrauber zu Lazarettbereichen gebracht. Die meisten Opfer werden ein falsches Verletzungs-Make-up tragen (Verbände), um zum Realismus des Ereignisses dieses Tages beizutragen. Einige Opfer werden von den Erste-Hilfe-Teams in Zelten und mit Feuergerätschaften »dekontaminiert« werden. Das ist eine großartige Gelegenheit, Ihre Erste-Hilfe-Teams inmitten all der Aufregung in Aktion zu sehen! [Quelle: Campus-Rekrutierungs-Anzeige]
Vielleicht ist dies die künftige pädagogische Erfahrung, wenn die Universitäten noch weiter strukturell in dem militär-industriellen Komplex integriert werden. Das war für die Studenten sicherlich interessant: etwa 100 von ihnen erklärten sich bereit mitzumachen. Solche interaktiven Simulation könnten durchaus eine Lösung für die Überfüllung der Hörsäle sein und auch ein Ventil für aggressive Triebe bieten, die ansonsten in gelegentlichen Aufständen zum Ausbruch kommen könnten. Sie könnten ein attraktives Studium für Studenten bieten, die mehr damit vertraut sind zu spielen als zu lesen. Vielleicht werden diese Studenten, die sich bestens mit Simulationen, reality media und der Entwicklung von user-generated web content auskennen, angezogen von dieser speziellen Übung als ein Weg, den Krieg gewissermaßen »zu bewohnen« – den Krieg gegen den Terror zu erleben, als ob man ein Videogame spielen oder einen Ausflug in einen Themenpark machen würde.
Wie kann man den »Schauder, den Krieg zu bewohnen«, erklären? Wir, als Kritiker, verurteilen sie zumeist. Wir können ihn leicht in eine allgemeine Kritik der Apparate der Kriegsmaschine einordnen – in seine Mystifikationen, seine falschen Verlockungen und seine Disziplinierungsfunktionen. Unsere Argumentationslinie könnte folgendermaßen aussehen. In den militärisch und korporativ angetriebenen Regimen des Spektakels werden die Subjekte als gefügige Soldaten-Konsumenten produziert, als Oberflächen für die Produktion einer Reihe von Verlockungen und Effekten. Wir werden den Anforderungen des Staates und der korporierten Macht angepasst, nahtlos in die Maschine integriert, unser Wahrnehmungs- und Sinnesvermögen wird dem entsprechend angeglichen. Wir sind Opfer wie der festgeschnallte und bandagierte Mann auf der Trage, ein trauriges Bauernopfer in einem größeren Spiel, dessen Regeln wir nicht gemacht haben. Keine Orte der Erfindung und der wirksamen Aktivität (agency) sind möglich: wenn sie diesen Anschein erwecken, sind sie illusorisch, bereits vom System vereinnahmt. Ein »falsches Opfer« wie das in der Terrorübung ist nicht nur das »Opfer« eines (simulierten) Anschlags, sondern auch der diskursiven Institution des Terrors selbst.

Als ich dort, mitten in der Simulation stand, änderte sich das Script plötzlich. Oder vielmehr meine Rolle darin. Vielleicht wollte ich, wie der Student auf der Trage, eine neue Art von Studium. Ich wollte eine andere Rolle spielen. Eine Rolle, durch die ich mein eigenes Opfer entdecken konnte – nicht durch Analyse, sondern durch Immersion. Gewiss, dazu getrieben, den Krieg »zu bewohnen«, spielen wir die Rollen, die die technologischen, diskursiven und psychischen Apparate von uns verlangen. Aber diese Apparate sind alle vom Begehren durchsetzt. Es gibt die Freuden, anerkannt zu werden, Freuden, in denen wir enthalten sind. Ich möchte diese Freuden erklären und dabei die transformative Aktivität (agency) entdecken, die darin steckt.

Und so wurde auch ich von der Casting-Agentur (agency) empfangen – irgendeine gestaltlose institutionelle Agentur (agency), die mich ebenfalls als »freiwilliges Opfer« suchte. Wenn dies ein Hollywoodfilm gewesen wäre, wäre mein Rollenwechsel vielleicht durch einen Schlag auf den Kopf, eine große Katastrophe oder durch »höhere Gewalt« verursacht worden. So wie es war, war das einzige Zeichen »von oben« der Soundtrack mit dem Heulen einer Polizeisirene – einer nachgemachten. Egal: im nächsten Augenblick merke ich, dass ich den Casting-Aufruf gehört habe. Ich weiß nicht, wie man die Rolle nennen soll, zu der ich aufgerufen wurde, da wir kein (kritisches) Vokabular dafür haben. Jedenfalls weiß ich dies: die Rolle verlangte von mir, von einer distanzierten (kritischen) Perspektive zu einer mehr beteiligten überzugehen. Keine Kritiken der Kriegsmaschine aus der Ferne mehr: ich bin nun aufgerufen, den Schauder, den Krieg »zu bewohnen« aus der Nähe zu erklären .

– Dann, genau im Moment meines Übergang, geschah etwas sehr Seltsames. Als ich meine alte Rolle verließ, begann der Mann auf der Trage, sich mehr in seine neue Rolle zu vertiefen. Während ich gern gedacht hätte, dass ich mich meiner neuen Rolle mit einer gewissen Zurückhaltung genähert habe (wir werden sehen), hatte der Mann, der im Moment des Ereignisses dort hingebracht worden war, eindeutig angefangen, seine Rolle ALLZU GUT zu »bewohnen«. Ich weiß nicht, in welchem Maße er gecoached worden war (alle freiwilligen Opfer hatten ein »Verletzungs-Script« bekommen), aber ich weiß, dass er ziemlich ÜBERTRIEB, was von ihm erwartet wurde.

Hier nun, was geschah. Das bandagierte Gesicht des Mannes wurde rot und schwoll an wie ein Streichholzkopf. Er wurde immer nervöser und zappelte auf seiner Trage. Sein Blick – kaum sichtbar durch die Schlitze seiner Bandagen zu sehen – schoss kreuz und quer durch die Umstehenden. Als die falsche Sirene abstarb, begann er, ein tiefes, heiseres GEBRÜLL auszustoßen, das unisono mit dem mechanischen DRÖHNEN der Generatoren und Notfallmaschinen vibrierte. Es erklang quer durch die Umstehenden, eine seltsame Mischung aus menschlicher und maschineller Entladung. Als in der Nähe eine »Dekontaminierungsmaschine« losfeuerte, drehte der Mann durch. Seine kehligen Laute, die schnell an Umfang und Lautstärke zugenommen hatten, steigerte sich zu einem wilden KREISCHEN, das wie ein Messer durch die Umstehenden schnitt.

In solchen Situationen – wenn jemand völlig durchdreht und nur in eine Art von ursprünglichem Kreischen verfallen kann – kann man nicht »direkt« hinsehen. Anstand erfordert einen verstohlenen, schrägen Blick. Mit einer raschen Folge solcher Blicke bemerke ich, dass die Hände des Mannes sich an der Trage festklammern; sein bandagierter Kopf vibriert wie ein Kraftwerk; und sein Mund ist in einer wilden Grimasse geöffnet. Empfindet er Furcht oder ein Hochgefühl? Eine freudige Anwandlung oder einen Totentanz? Oder den Genuss der Gefahr selber: die Freude am

Spiel und seinen widersprüchlichen Erregungszuständen?
Ein Moment der Ruhe. Sammelt er vielleicht seine Verstandeskräfte? Das weniger: Als er so da liegt, beginnen periodische SCHREIE aus ihm hervorzubrechen, zum Entsetzen von allen in der Umgebung, die ihn, nach all dem, nicht zum Schweigen bringen konnte, ohne »aus der Rolle zu fallen«.

Der kreischende Mann, der sich auf der Trage wand, schien sich in einem Prozess zu befinden, in dem er buchstäblich zum Opfer WURDE, und nicht nur die Rolle eines Opfers zu spielen. Man denkt unwillkürlich an den Rossellini-Film Der falsche General oder an den Hirschbiegel-Film Das Experiment, in dem die Hauptpersonen, die in die Rollen schlüpfen, welche sie spielen sollen, anfangen, diese Rollen als eine Art symbolisches Mandat zu sehen, bis sie buchstäblich zu dem WERDEN, was sie (zuvor) verkörperten. Wie Slavoj Zizek sagen würde, auf einer falschen Maske zu beharren, kann uns einer wahren, authentischen subjektiven Position näher bringen als die Maske herunter zu reißen und unser »wahres Gesicht« zu zeigen. Eine Maske ist somit keine falsche Verkleidung, sondern ein Mittel der Realisierung, das den aktuellen Platz bestimmt, den wir im intersubjektiven symbolischen Netzwerk einnehmen, und somit unsere gesellschaftliche Rolle. Anders gesagt, was wirklich »falsch« ist, ist nicht die Maske selber, sondern die innere Distanz, die wir zu ihr einnehmen – die Illusion, dass unser »wahres Selbst« hinter ihr versteckt ist. Vielleicht führt der Weg zu einer authentischen subjektiven Position, wie Zizek meint, von außen nach innen: erst geben wir vor, jemand zu sein, und dann werden wir nach und nach, Schritt für Schritt tatsächlich zu dieser Person.1

– Man kann sich vorstellen, dass die Atmosphäre des Terror-Trainings sich nun radikal geändert hat. Arbeiter und Zuschauer nehmen nervös ihre Positionen ein. Obwohl der Steuerungsagentur (agency) der Notstands-, Polizei- und Erziehungs-Institution unterworfen und gleichzeitig gehalten, den Gesellschaftsvertrag zu erweitern, gibt es nur wenige akzeptierbare Arten des Engagements. Meistens gucken wir weg, unsere Köpfe schweifen musternd über die Menge, als ob nichts geschehen wäre. Oder wir wenden mit gesenktem Kopf unseren Blick ab – unsicher, wie mit dem Ausbruch höflich umzugehen ist (es ist unhöflich jemanden anzustarren, haben uns unsere Eltern immer wieder gesagt). Unsere Bewegungen werden erzwungen, der Bereich um den Mann wird abgesperrt. Wir werden von einer Art von elaborierter Choreographie erfasst. Diese Choreographie durchzieht Körper, Technologien und das soziale Umfeld. Von einem Steuerungsbereich geschaffen, erzeugt sie die sensorischen und somatischen Anpassungen, die sie verlangt..

Das ist gewissermaßen eine sich selbst steuernde Choreographie der Macht, die in einer gesellschaftlichen und technischen Maschinerie gebündelt ist, die uns ihre Sichtweise aufzwingt, die Zulässigkeit unserer Perspektive bestimmt und uns als Subjekte positioniert. Diese Maschinerie – dieser Apparat – wird natürlich durch verschiedene Steuerungsmächte institutionalisiert und stabilisiert, zu denen auch die Notstands- und Polizei-Institutionen gehören, aber sie beinhalten auch umfassendere diskursive Verträge, durch die gesellschaftliche und operative Protokolle aufrecht erhalten werden. Der Apparat lässt die Programme seiner Steuerungsinstanzen ablaufen, aber da diese zum Teil gesellschaftliche Phänomene sind, werden diese Programme sich ändern, wenn sie in der Praxis institutionalisiert werden.
Eine Änderung kann sich an jedem Punkt in der Praxis oder beim Ablauf des Systems ergeben: wie der erregte Schauspieler auf dem Gehsteig WINDEN wir uns manchmal, wenn wir uns in diesen Substraten von Maschinerien bewegen oder in ihnen bewegt werden. Ständig wirken Tausende von Reizen auf uns ein und ziehen uns in ein breiteres sensorisches Netzwerk hinein, das über allen Steuerungen steht. Unsere Körper werden damit fertig, aber wir sind davor nicht geschützt. Wir können das als »Stimmung« empfinden. In unserem Inneren brodeln potentielle Aktionen, um außen zum Ausdruck zu kommen oder innen eingefaltet zu werden. Unsere inneren Regungen bedrängen die Grenzen der Sichtbarkeit, wobei sie jederzeit ausbrechen können. Jemand mag seufzen. Jemand mag vor Frust laut aufschreien. Jemand mag abrupt gestikulieren. Jemand mag den Raum verlassen. Wie der vulkanische, eruptierende Mann mag jemand »in die Luft gehen«.
Wenn die Macht der Ort des Repressiven ist, dann sind diese Überlegungen ein Ort für das EXZESSIVE. Disziplinarmacht wird im allgemeinen so verstanden, dass sie durch Eindämmung und Steuerungskräfte operiert, obwohl diese sensorischen Netzwerke und ihre Eruptionspotentiale alle Steuerungen überwinden und den »eingedämmten« Körper der Gefahr aussetzen. Während erstere mit Signifikation operiert, überschreitet der letztere sie. Beide erfordert eine andere Art von Wahrnehmung. Dem brasilianischen Theoretiker Suely Rolnik folgend, können wir den Unterschied folgendermaßen formulieren. Wir haben zwei verschiedene Wege, die materielle Welt wahrzunehmen – entweder als »Muster von Formen« oder als »Kraftfeld«. Ersteres bezieht sich auf die Wahrnehmung, so wie sie auf die Welt der formalen Präsenz triff – die Welt, mit der wir durch Vorstellungen umgehen. Das zweite bezieht sich auf die Sinnesempfindung – die Welt der lebendigen Präsenz, mit der wir durch Übertragung (tansmission) umgehen.2 Offensichtlich arbeiten diese Wahrnehmungsweisen zusammen. Will man aber beide gleichzeitig zulassen, kommt man an die Grenzen des Diskurses. Anstatt also nur auf die reduktive Form oder die Signifikation zu vertrauen, werden wir herausgefordert, Resonation und Exzess miteinander zu verbinden. Nicht nur SPRECHEN, sondern auch SCHREIEN.

– Dieser Apparat ist, so wie er von seinen Steuerungsmächten geschaffen wird, das, was Programme laufen lässt und Bewegungen choreographiert. Seine Aktivitäten sind an allen Punkten durch Exzess bedroht, wie bei dem schreienden Schauspieler, dessen innere Regungen die Grenzen der Sichtbarkeit bedrängen und dabei die Stabilität der Grenzen des Körpers gefährden. Körper und Umgebungen werden sicherlich eingeschlossen und gesteuert. Dennoch werden durch diese Körper hindurch Resonanzen übermittelt, die das Potential enthalten, sie zu überschreiten oder zu destabilisieren. Man könnte sagen, dass der Körper nicht nur EINGESCHLOSSEN, sondern BEREIT GESTELLT wird. Er wird bereit gestellt für die Aktion. Er dreht und windet sich innerhalb der Ordnungskräfte, die seine Kohärenz aufrecht erhalten. Aufgrund seiner Resonanzen und Transmissionen ist er bereits außerhalb seiner selbst. Er ist fixiert, obwohl er sich bewegt, er ist materiell, obwohl er unkörperlich ist. Er manifestiert, was Brian Massumi als »selbst-disjunktives Übereinstimmen« beschrieben hat – eine Konversion oder Entfaltung des Körpers, die zeitgleich ist mit jeder seiner Bewegungen, die eine ontologische Differenz in den Kern des Körpers eindringen lassen.3 Das läuft auf so etwas hinaus wie die Unterscheidung von POSITION und DISPOSITION.

Ausgehend von Gilles Deleuzes Unterscheidung von Disziplinar- und Kontrollgesellschaften, können wir sagen, dass der Apparat nicht mehr darauf aus ist, zu formen, sondern zu MODULIEREN.4 Da er nicht einfach darauf abzielt, einzuschließen und zu bestimmen, sondern eher aufrecht zu erhalten und zu managen, was über seine Bestimmungen hinausgehen könnte. Giorgio Agamben würde diese Unterscheidung ebenfalls machen, wobei er aber die modulierende Funktion präziser als die der Sicherheit bezeichnet. Während Disziplin Territorien isoliert und einschließt, schreibt er, führt Sicherheit zu einer Öffnung und zur Globalisierung. Während erstere vorbeugen und vorschreiben will, will letztere in laufenden Prozessen intervenieren und diese Prozesse leiten. Während erstere Ordnung schaffen will, will letztere die Unordnung steuern.5 Dieser Argumentationslinie folgend, ist der neue Sicherheitsapparat nicht »präventiv«, obwohl er manchmal in den Medien und in vielen kritischen Kreisen dafür gehalten wird.6 Er ist nicht präventiv, da er nur in einem Kontext der Freiheit des Verkehrs, des Handels und der individuellen Initiative funktionieren kann«. Somit geht Agamben, Foucault folgend, davon aus, dass die Entwicklung von Sicherheit mit der Entwicklung der liberalen Ideologie zusammenfällt.7

Im Gegensatz zur disziplinären Kontrolle versucht diese Sicherheitsmodulation nicht, die »gefährlichen« Exzesse zu eliminieren, die die Kohärenz eines Körpers bedrohen. Sie versucht eher, diesen Exzess zu verwalten oder ihn als verwaltbaren zu produzieren. Sie setzt ebenso Dispositionen wie Positionen, arbeitet ebenso mit Bereitschaft wie mit Regulierung oder Steuerung. Ein solcher Ansatz beinhaltet die Einverleibung von Ungewissheit; wenn er eine Form von Kontrolle ist, dann eine, bei der die Ergebnisse nicht im Voraus bestimmt werden können. Man beachte die paradigmatischen Veränderungen im »Feldhandbuch zur Aufstandsbekämpfung« den US-Armee/Marine, das im Dezember 2006 als Regierungsdokument verfasst und jetzt von der University of Chicago Press veröffentlich wurde. In den 90er Jahren legte die Militärstrategie den Schwerpunkt auf den Schutz der Kräfte; heute, im Jahre 2006, wird dieser Schwerpunkt durch mehrere Paradoxe zu Fall gebracht: »Manchmal gilt, je mehr man seine Kräfte schützt, um so weniger sicher kann man sein,« »Manchmal gilt, je man Kraft man anwendet, um so weniger effektiv ist dies.« »Manchmal gilt, nichts zu tun, ist die beste Reaktion.«8

Wie Vilém Flusser schreibt, ist das lateinische Wort apparatus abgeleitet von dem Verb apparare, was »vorbereiten« bedeutet. Für Flusser ist der Apparat ein Ding, das nach etwas auf der Lauer liegt: ein Ding, das eine »Bereitschaft, in Aktion zu treten«, aufweist. Der Fotoapparat liegt zum Beispiel auf der Lauer nach Fotos; »er schärft seine Zähne in Bereitschaft«.9 Der Apparat macht sich selbst für die Aktion bereit wie Jäger, der sich für einen Beutezug vorbereitet.

Wenn wir diese Etymologie weiter entwickeln, um stattdessen zu einer aktiven (und nicht so sehr passiven) Auffassung des Apparates zu gelangen, dann wäre der Apparat nicht unbedingt eine Maschinerie, die nach etwas auf der Lauer liegt, sondern eher eine Maschinerie, die Akte der Bereitschaft arrangiert oder choreographiert. Eine Maschinerie, die BEREITSCHAFT MODULIERT. Man könnte den Sicherheitsapparat sicherlich als etwas sehen, das nach Bedrohung auf der Lauer liegt. Aber man könnte diesen Apparat auch als ein Milieu verstehen, das seine Subjekte vorbereitet oder ihre Neigungen zum Handeln kalibriert. Für was bereitet er sie vor? Er bereitet sie vor für eine sichere und produktive Bewegung gegen eine Landschaft der Bedrohung; er bereitet sie darauf vor, Gefahr und Uneffektivität abzuwehren. Dennoch beschäftigt er sich nicht nur mit Furcht, sondern auch mit Freude. Wir sollten also sehen, dass Bereitschaft nicht einfach nur mit Alarmbereitschaft verbunden ist. Sie ist ein doppeldeutiger Erregungszustand.

Im Bereitschaftszustand ist man wirklich für etwas bereit, sei es nun Gefahr oder Begehren.
– Welche Rolle spiele die »Bereitschaft«? Ich möchte Bereitschaft verstehen, indem ich bestimmten Linien folge, die über den Begriff Affekt nachdenken – insbesondere der Analyse, die Brian Massumis Lektüre von Henri Bergson und Gilles Deleuze eröffnet hat und in der der Affekt deutlich von Emotionen und Gefühlen unterschieden wird.10 Weit entfernt von einer identifizierbaren Emotion, ist der Affekt Vitalität, eine reine Potentialität, ein undifferenziertes, bewegliches Kaleidoskop von Sinnesempfindungen und Regungen. Er ist eine widersprüchliche Dimension, in der Ängste und Freuden gemeinsam vorfindlich sind, bevor sie als solche kategorisiert werden können. Wie Philip Turetzky sagt, Affekte sind eher Formen des Werdens (im Sinne von Deleuze) als Strukturen; sie verteilen Intensitäten und produzieren offene und attraktive Möglichkeiten (im Sinne von Husserl).11

Bereitschaft ist, wie der Affekt, eine Form von Aktivierung, die für das Bewusstsein nicht notwendigerweise verfügbar ist, aber sie wird dennoch geteilt von den synästhetischen Wahrnehmungsfähigkeiten des Körpersubstrats. Sie ist tätig sowohl in propriozeptiven (der unbewusste sensorische Fluss von den beweglichen Teilen des Körpers, durch den die Position und die Art der Bewegung ständig angepasst werden) als auch in viszeralen Funktionen (die tieferen Regungen, die von den Organen und Systemen des Körpers registriert werden, bevor sie vom Gehirn verarbeitet werden können). Anders gesagt, sie ist etwas, das innerhalb des Selbst hervorquillt und dem Körper irgendwie »bekannt« ist, aber für das bewusste Denken nicht notwendigerweise verfügbar ist. Man hat gesagt, dass heute, in einer Multitasking-Welt, unsere Aufmerksamkeit verworren geworden ist: wir konzentrieren unsere Aufmerksamkeit nicht so lange auf eine Sache, wie es für eine »kontinuierliche partielle Aufmerksamkeit« notwendig wäre. Motiviert von dem Wunsch, keine Gelegenheit zu verpassen, jonglieren wir mit Objekten des Interesses, bevorzugen einen Punkt für einen bestimmten Moment, aber haben ständig mehrere Tasks im Hintergrund laufen, nur für den Fall, dass etwas Wichtigeres oder Interessanteres auftaucht. Bereitschaft mag verstanden werden als die verkörperte Dimension des Folgenden: »kontinuierliche partielle Aktion«. Sie existiert irgendwo zwischen einem inneren Körperzustand und einer bewussten Öffnung für die Welt, zwischen doppeldeutiger körperlicher Erregung und konzentrierter Aufmerksamkeit. Sie ist die Art und Weise des Körpers, sich selbst für den Ausdruck vorzubereiten, eine lebendige innere Regung, die zu den Grenzen der Aktivität drängt.

Da externe Reize gefiltert werden und das Feld der Aufmerksamkeit durch die affektiven Fähigkeiten des Körpers reorganisiert wird, bilden sie einen Eingangshafen in den Körper. Bereitschaft könnte verstanden werden als der Ort, an dem Affekte aufbereitet, produziert oder auf andere Weise durch Reaktions-Techniken und -Technologien stimuliert werden können. Sie könnte als die lebendige, verkörperte Dimension der Wachsamkeit (vigilance) betrachtet werden.

In seiner Studie zur modernen Psychologie weist L. S. Hearnshaw darauf hin, dass der Ausdruck Wachsamkeit (definiert als »ein Status der Bereitschaft, um bestimmte, spezifierte kleine Veränderungen, die in zufälligen Abständen in der Umgebung auftauchen, zu erkennen und auf sie zu reagieren«) zuerst von dem Cambridger Psychologen Norman Mackworth in seinen, während des Krieges vorgenommenen Studien zur visuellen und auditiven Wahrnehmung verwendet wurde.12 Friedrich Kittler zufolge, können wir einen Ausdruck wie Wachsamkeit fest im seiner medien-technologischen Grundlage ansiedeln – vielleicht beim Aufkommen der Echtzeit-Erkennung (insbesondere Radar), die nur so gut war wie die Bediener, die dafür trainiert wurden, Abweichungen der Grundmuster zu erkennen.13 Jonathan Crary siedelt eine neue Formulierung der Wachsamkeit in der ständigen Überwachung von Radarbildschirmen durch menschliche Operatoren während des Zweiten Weltkriegs an und somit im effektiven Gebrauch von neuer Echtzeit-Technologie.14 Für unsere Zwecke ist Wachsamkeit Aufmerksamkeit in Echtzeit: Aufmerksamkeit auf einen erhöhten Alarmzustand als Reaktion auf potentielle Bedrohung, angetrieben von den Anforderungen unmittelbarer Erkennungstechnologien. Ihre zivile Entsprechung ist der just-in-time Konsument-Händler, immer wachsam am Computer, den Finger bereit zum Klick. Der Konsument-Händler, der nicht mehr Potentiale »sieht«, sondern sie berechnet: der Händler-Spieler, bewaffnet mit einem Joystick, mit einem Fuß in der Zukunft.

– Technologien der Bioanalyse dringen tiefer in diese inneren Mikro-Zustände der körperlichen Bewegung und der affektiven Disposition ein, wobei sie diese Zustände als Berechnungen, Statistiken und Simulationen einordnen. Hier ist etwas, was diese Technologien enthüllt haben: eine bestimmte Aktion wird vom Körper bereits 0,8 Sekunden, bevor wir bewusst ihre Tätigkeit zur Kenntnis nehmen, in Gang gesetzt. Der Körper macht sich selbst zur Aktion bereit, BEVOR es eine bewusste Erfahrung der Aktion gibt. Laut Nigel Thrift können wir den Zeitraum der Verkörperung entsprechend erweitern, so dass er eine »sich ständig bewegende vorbewusste Grenze« inkorporiert. In anderen Worten, was wir als die unmittelbare Präsenz des Körpers erfahren, ist in gewissem Sinne bereits Vergangenheit. Die vorbewusste Grenze in unser Verständnis der Verkörperung zu inkorporieren, besteht darin, die dauerhafte Ausdehnung des gegenwärtigen Moments zu erweitern, indem wir einen Raum zwischen Affekt und Kontemplation öffnen.15

In vielerlei Hinsicht ist dieser Raum bereits zu einem Ort von Operationen geworden. In einer eskalierenden, zunehmend konkurrenzhaften Konsumenten-Sicherheits-Kultur geschieht alles in diesem Kluft zwischen Handeln und Denken, Detektion und Engagement. Gegründet auf schrumpfende Intervalle in Zeit und Raum, in denen es anscheinend immer weniger Zeit zum Handeln gibt, ist eine neue Welt aufgetaucht, die auf vielfältigen Dauerkrisen beruht, die als schwindelerregendes Aufgebot der Produktauswahl präsentiert wird und in der auf Wunsch und Furcht basierende Selbst-Scans nicht dazu befähigen, in irgendeiner Arena zu handeln, da es bereits »zu spät« ist. Die nächste Krise, die immer unmittelbar bevorsteht, verlangt volle Wachsamkeit. Das ist eine Welt, in der genuines Handeln »unproduktiv« wird und eine Form von permanenter Proto-Aktion an seine Stelle trifft. Man erlebt den Genuss der Aktion, aber man handelt nicht. Das ist so etwas wie Aktion ohne Aktion: Überschreitung ohne Konsequenz.

Das farbig abgestufte »System der Bedrohungsebenen« des US-Department of Homeland Security fördert gerade diesen Typ von Proto-Aktion. Diesem Text zufolge, ist die gegenwärtige Bedrohungsstufe »erhöht« oder »gelb« – eine Stufe, auf der den Amerikanern geraten wird, »weiterhin wachsam zu sein und auf ihre Umgebung zu achten«. Der Fokus bewegt sich fort vom genuinen Handeln und hin zu Handlungsdispositionen, die sich gerade am Horizont der Bewegung akkumulieren. Der Sicherheitsapparat bereitet seine Subjekte vor, kalibriert ihre Handlungstendenzen durch ein System von codierten Warnrufen und lenkt sie gegen die Gefahr. »Aktionsfähigkeit« bekommt den Vorrang vor der Aktion, statistische Auswertung bekommt den Vorrang vor der Sprache, und Kalibrierung vor der Eindämmung. Wie Paul Virilio feststellte, verlagert sich in einer solchen Landschaft der Schwerpunkt von der »Standardisierung der öffentlichen Meinung« zur »Synchronisierung der öffentlichen Emotion«.16

Laut John Armitage operiert die »Be Ready«-Kampagne, die ebenfall vom US-Department of Homeland Security gestartet wurde, auch in diesem Raum unmittelbar bevorstehender Mobilität. Die Bereitschaft, die sie propagiert, hat kein wirkliches Ziel, sondern wird einfach in einem endlosen Kreislauf fortgesetzt. Der individualisierte »Wunsch nach Mobilität« – der Verbraucherschutz-Impuls – wird neu codiert und in die Theater der Bedrohung verlagert.17 Wunsch und Furcht wirken hier zusammen, an der Schwelle der Aktion. Shopping funktioniert als Vergnügen und als Verteidigung. Auf der affektiven Stufe von Bereitschaft arbeiten Kampf und Shopping oder Furcht und Vergnügen zusammen. Sie bilden einen ineinander greifenden Mechanismus der Stimulation, der nur auf der Ebene der Sprache widersprüchlich ist.

Da Bereitschaft übermittelt werden kann, ist sie eine mächtige gesellschaftliche Kraft. Sie kann die Form transformieren, durchqueren und in einer Welle köstlichen Deliriums das Denken außer Kraft setzen. Wie bei der Kreisch-Aktion auf dem Gehsteig übermitteln die Leute untereinander affektive Resonanzen und transformieren das Vibrieren von Räumen und Situationen. Durch diese Transformationen werden Akteure –Leute, Dinge, Räume – gegenseitig auf einander abgestimmt; miteinander synchronisiert; oder auf vielfältige Weise zur Übereinstimmung gebracht. Oder auch nicht. (Ich sage lieber »auf einander abstimmen« als »in Beziehung gesetzt«, weil es Synchronisierung, Zusammenschaltung und Übereinstimmung beinhaltet; und im Gegensatz zum »in Beziehung setzen« beinhaltetes keine Distinktion und räumliche Trennung. Mit der Bereitschaft sind wir gehalten, ebenso von »auf einander abstimmen« zu sprechen, wie wir zuvor von »in Beziehung setzen« gesprochen haben.)

Diese Transmissionen können zu so etwas wie einem kollektiven guten Willen führen (wie bei einer Kundgebung), oder zu quälender Angst (wie bei dem vulkanischen Ausgeflippten auf dem Gehsteig). Sich durch und zwischen Körpern bewegend, erzeugen sie eine Art Übereinstimmung von Subjekten und Zielen. Dafür gibt reichliche Beispiele. In Zeiten der Aufregung schweißt ein Solidaritätsgefühl zusammen und wendet sich dann gegen andere Aggregate. Wenn wir protestieren wollen, suchen wir nach Verbündeten. Gefangen von einem vertrauten Mix, bewegen wir uns zusammen im Beat, saugen mit dem Rhythmus eine Atmosphäre ein, senden und inhalieren wir rhythmische Codes mit dem ganzen Körpersensorium.

– Oft stärker als Ideen, kann Bereitschaft bis zu einem gewissen Grade repliziert werden – wie in der Werbung oder bei den »tried-and-true«-Mechanismen beim »Aufpeitschen der Menge« in politischen Reden. Das Gleiche gilt für das DJ-ing, religiöse Rituale und den militärischen Drill. In diesem Sinne kann sie FORMALISIERT werden. Aber Bereitschaft kann auch in ungeplanter Weise AUFTAUCHEN. Sie kann kollektiv und polyrhythmisch erzeugt werden – bei den Interaktionen von verschiedenen Kräften und Praktiken auftauchen, und aus den individuell – und kollektiv – erworbenen Reaktionsmustern. Auch in diesem »Notfall«-Sinn kann sie repliziert werden – wie mit einer bestimmten Bewegung oder Gebärde, die sich in einer Gemeinschaft verbreitet. Ihre Quelle kann einfach eine kritische Masse von affektiven Transmissionen sein, die im Laufe der Zeit anfangen, eine Gemeinschaft zusammen zu schweißen und die Bühne für eine gemeinsame Praxis zu bilden, so dass die Akkumulation von Wissen, Technologie und Materialien intensiviert wird.

Es wird gesagt, dass etwas aufgetaucht ist, wenn es die Fähigkeit aufweist, Kräfte auf einer höheren Organisationsstufe an den Tag zu legen, die es auf anderen Stufen nicht gibt. Als ein System komplexer Interaktionen verstanden, sind die Eigenschaften der Kombination als Ganzer mehr als die Summe seiner einzelnen Bestandteile. (Was auftaucht, kann als solches nur mit einem analytischen »top-down«-Ansatz erfasst werden – das heißt: beginne mit dem Ganzen und zerlege es in seine Bestandteile.) Etwas dieser Art findet sich in Manuel De Landas Begriff von nicht-linearer Geschichte, bei der geschichtliche Transformation kein lineares Voranschreiten auf der Leiter des Fortschritts ist, sondern ein Sichüberkreuzen von nicht-linearen kritischen Schwellen. Wie De Landa erklärt: »So wie eine gegebene Verbindung (zum Beispiel Wasser) in mehreren verschiedenen Zuständen existieren kann (fest, flüssig oder gasförmig) und an kritischen Punkten der Intensität der Temperatur (genannte: phase transitions) von einem stabilen Zustand in einen nicht-stabilen Zustand übergehen kann, so kann eine menschliche Gesellschaft als ein ›Material‹ gesehen werden, das in der Lage ist, diese Zustandsveränderungen durchzumachen, wenn sie im Hinblick auf die Besiedlungsdichte, den Energieverbrauch oder auch die Intensität von Interaktionen eine kritische Masse erreicht.«18 Man kann vielschichtige, resonierende Organisationsebenen aufstellen, die zeitweilig eine stabile Form (oder materielle Zustände) aufweisen. Diese Stufen können ganz unterschiedliche Logiken und Rhythmen haben. Auch können sie in Resonanz miteinander verschränkt sein, aber sie enthalten immer das Potential für eine Variation oder für ein Auftauchen – für die spontane oder herbeigeführte Erzeugung einer neuen Realitätsstufe. Zwischen diesen Regionen des Potentials gibt es keine Grenzen, sondern nur Schwellen. Wenn nun Bereitschaft ein auftauchendes Phänomen ist, dann eines, das zumindest teilweise durch zusammengesetzte Kräfte und Gefüge gebildet werden kann. Diese »Formalisierer« bringen in die Überlegungen die Sprache ein. (Auch wenn Bereitschaft selber als vor-symbolisch verstanden werden kann – eher als Kraftfeld, denn als Grundmuster der Form – die Betrachtung der Sprache muss eingeführt werden, wenn ihre strukturierenden Dynamiken betrachtet werden. Bereitschaft ist, wie der Affekt, kein sprachliches Phänomen, wenngleich ihre »Foramalisierer« es zum Teil sind.) Diese zusammengesetzten Kräfte und Gefüge sind nicht so sehr Formen, sondern Form-Maschinen. Sie strukturieren Akkorde, die auf vielfältigen Organisations- und Stabilitätsstufen wirksam sind. Wenn sie eine bestimmte Organisationsschwelle überschreiten und in die Praxis umgesetzt werden, können sie Formen eventualisieren. In diesem Sinne sind sie keine Dinge, sondern umsetzbare Kapazitäten – in Struktur umsetzbare Kapazitäten. Sie sind Aktivierungs-Gestalter, die sich durch ihre vielfältigen Instantiierungen verständlich machen.

Bereitschaft ist ein Zustand affektiver Organisation, der stabil genug ist, um »formalisiert« zu werden und dann als Schablone repliziert oder angewandt zu werden, und zwar ganz gleich, ob diese Formalisierung geplant ist oder von sich aus auftaucht. Dennoch ist Bereitschaft inhärent ein instabiles Phänomen. Ihre Ausdrücke in der Praxis sind nicht voraussagbar. Die Modulierungsformel kann sich jederzeit durch ihre Instantiierungen in der Praxis ändern.

– Noch einmal, der Apparat, wie er von seinen Steuerungsbereichen geformt wird, ist das, was Programme ablaufen lässt und Bewegungen choreographiert. Seine Aktivitäten sind an allen Punkten vom Exzess bedroht, wie bei dem erregten Akteur auf dem Gehsteig, dessen innere Regungen die Grenzen der Stabilität bedrängen. Resonanzen werden durch Körper übermittelt, die das Potential in sich tragen, sie zu überschreiten. Der Körper wird nicht nur eingeschlossen (gesteuert), sondern disponiert (resoniert). Dann ist der Apparat das, was sich jenseits seiner Funktionen, die frührer als disziplinär verstanden wurden, zu den Funktionen der Kontrolle (im Sinne von Deleuze) oder der Sicherheit (im Sinne von Agamben) hinbewegt. Er wird zu einer aktiven Maschinerie, die Akte der Bereitschaft arrangiert oder choreographiert. Eine Maschinerie, die Bereitschaft moduliert. Eine Maschinerie, die weniger bestrebt ist, Aktionen und Ergebnisse zu kontrollieren, als Handlungstendenzen zu kalibrieren.

Dieser Modulierungsapparat will nicht die »gefährlichen« Exzesse eliminieren, die die Kohärenz eines Körpers bedrohen. Da es an jedem Punkt der Praxis oder Leistung des Systems zu Änderungen kommen kann, versucht er vielmehr, diese Exzesse zu managen oder sie als zu bewältigende zu produzieren. Er gibt Dispositionen und Positionen vor, arbeitet ebenso mit Bereitschaft wie mit Steuerung. Der Modulierungsapparat lässt die Programme seiner Steuerungsinstitutionen laufen, aber da diese teilweise gesellschaftliche Phänomene sind, verändern sich diese Programme – oder Formeln –, wenn sie in der Praxis instantiiert werden.

Die Modulierungsformel existiert in der Zeit, liefert eine kalibrierende Infrastruktur, durch die die Dinge sich rhythmisch bewegen oder im Beat
tanzen. Sie ist kein Kontrollmechanismus, da sie immer unterbrochen und transformiert werden kann. Dennoch hat sie Wirkungen: sie gestaltet Handlungstendenzen. Sie bringt zusammengesetzte Imperative mit sich, die sowohl materiell als auch rhythmisch sind. Sie gibt formale Dynamiken vor, miteinander verwobene Programme, Akteure, Rollen und Tendenzen. Sie ist eine Formalisierungsmaschine, die durch die Gestaltung von Potential arbeitet.

In gewissem Sinne reicht jede Zahl von Formen, solange die Formel da ist. Man denke daran, wie es in der volkstümlichen Unterhaltung ist: im Soap-Melodrama oder im Hollywood Aktion- oder Abenteuerfilm spielt es im Grunde keine Rolle, wer die Helden sind oder wo der Schauplatz ist, solange die Formel hält. Auf einen schlechten Film, vorhersehbar und leicht zu durchschauen, wird als »formelhaft« verwiesen. Wenn jemand einen produktiven Weg findet, um etwas zu tun, wird von ihm gesagt, er habe eine »Formel« gefunden. Selbst die Tragödie selber kann als Formel verstanden werden. Die Objekte sind letzten Endes austauschbar, ihr Zustand ist fließend. Sie können von feindselig bis freundschaftlich wechseln, vom Angriffsobjekt bis zum Aneignungsobjekt.

Um die Wirkungsweise der Modulierungsformel zu erfassen, dürfen wir uns nicht auf die Bedeutung allein konzentrieren. Laut Suely Rolnik können wir von Resonanz auch als Repräsentation sprechen; von lebendiger Präsenz als von formaler Präsenz. Was zentral für die Wirkungsweise der Formel ist, ist der Genuss, die Art von perverser Lust, die uns anzieht und abstößt – so etwas wie eine »morbide Neugier« in Bezug auf die Richtung und Objekte unserer Blicke und auf das, was wir nicht sehen wollen. Wie bei Kriegs- oder Katastrophenbildern. Hier treten skopophiles Vergnügen und Überwachungsangst gemeinsam auf. Diesen Bereich anzuerkennen, bedeutet zuzugeben, dass Gefahr und Konflikt konstitutive Elemente der Attraktion sind – die sich im unvorhersehbaren, gefährlichen Netz unserer Faszination zeigen, das uns in die narrative Welt zieht und das uns auffordert, das Drama »zu bewohnen« (wie bei dem Akteur in der Terror-Simulation). Im nächsten Moment könnten wir das Opfer sein. Wir wissen nicht, welche Gefahr vor uns liegt, aber wir müssen auf unser eigenes Risiko weitermachen. In jedem Moment könnte das Begehren seinen konstitutiven Anderen finden – den Tod. Wie Bataille uns erinnern würde, was uns antreibt, ist die Möglichkeit der Vereinigung.
Die Modulierungsformel kann nicht entziffert oder interpretiert werden: wir verfehlen ihre Resonanz, wenn wir uns mit ihr nur im Feld des Ideologischen beschäftigen. Letztlich kann niemand die Manifestationen und Effekte der Formel kontrollieren; sie scheint ein Eigenleben zu führen, wie die verflixte Melodie, die man nicht aus dem Kopf kriegt; sie scheint sich quer durch eine Gemeinschaft auszubreiten und zumindest. auf irgendeiner Ebene soziale Bindungen herzustellen. Ein Tanzschritt; ein wiederholtes Verhalten; eine Verschwörungstheorie; ein religiöses Ritual; ein packender Satz; die Faszination von einer Berühmtheit; eine Spielsucht; eine Design-Vorliebe; ein erotischer Zwang; ein Fetisch. Die Modulierungsformel ist derartig verwurzelt, dass sie sich mit etwas »in einem« verbindet – in Lacanscher Terminologie gesagt: es ist etwas in einem, das größer als man selbst ist. Etwas wie ein perverser Beweggrund, ein sich ausbreitendes Muster, das Erregungen erzeugt und Dispositionen strukturiert, aber im Grunde nichts bedeutet.19

Die Modulierungsformel ist sodann eine agile, formlose Form, die sich zwischen den affektiven und symbolischen Registern, zwischen Dispositionen und Begriffen bewegen kann. Sie verkehrt zwischen den intensiven und extensiven Registern, agiert wie eine strukturierende Komponente oder wie ein Aktivierungs-Gestalter. Sie funktioniert gleichzeitig als Akteur, als Leiter und als ein Oberflächen-Effekt. Sie kann Objekte lokalisieren, und sie kann sie zu potentiellen Zielen machen; dennoch manifestiert sie ein deformatierendes affektives Potential, das die Ordnung des Rasters durcheinander bringt und dabei neue Zusammenfügungen der Wirkungskraft (agency) ermöglicht.20 Hier versucht man weniger zu repräsentieren, als zu erzeugen und zu durchqueren. Man muss auf Relais zwischen den Stufen transversale Mischungen. Neuverteilungen von Energie und Bedeutung achten. Darauf, wie die Modifikationen von Potentialen (ob nun beabsichtigt oder auftauchend) weitergeleitet werden; wie sie im allgemeinen auf Wegen rekonfigurieren, die zu einer Verstärkung oder Abdämpfung führen können. Der Form-Inhalt-Dualismus und die Signifikant-Signifikat-Dualität werden vermieden. Ganz zu schweigen von den alten Gegensätzen – real/künstlich, Natur/Kultur, Körper/anderes. Was statt dessen auftaucht, ist so etwas wie eine Unterscheidung von Form und Substanz – oder Material, Inhalt und Ausdruck. Was wir als »Inhalt« verstehen, ist geformtes Material, und Codifizierung seiner Ordnung.

– Vielleicht habe ich mich doch zu sehr in meine Rolle als »freiwilliges Opfer« vertieft. Die Landschaft, die ich hier skizziert habe, eignet sich nicht für eine traditionelle kritische Annäherung, die nützlich gewesen wäre, um Glaubensformen, Mächte, Illusionen und essentialistische Wahrheiten zu entlarven. Sie ist nicht förderlich für eine solche deduktive Orientierung. Sie scheint eher das Gegenteil davon zu fördern. Wie Bruno Latour sagen würde, das Ziel ist nicht, die Dynamik zu reduzieren, sondern sie weiter auszudehnen.21 Vielleicht müssen auch wir uns über die disziplinären, einschließenden und auf das Management bezogenen Argumente hinaus begeben und statt dessen Wege zur Inkorporierung der Erweiterung finden – das heißt Wege, um den Exzess zu produzieren und mit ihm umzugehen. Wofür der Modulierungsapparat immerhin besser als nichts ist. Das beinhaltet nicht nur einen Rollenwechsel; es beinhaltet eine Umformulierung des Scripts.

Ist es möglich, ein Netzwerk der Interpretation zur schaffen, das nicht reduzierend ist? Wie würden wir das nennen?
Das ist eine schwierige Aufgabe, weil wir nicht auf die wertvollen kritischen Werkzeuge verzichten wollen, die wir geerbt haben. Und auch wollen wir nicht immersiv an der anti-analytischen Orientierung der Konsumgesellschaft mit ihren ständigen Extensionen und Zugeständnissen teilhaben. In einer Welt des product placements, der Politik als Unterhaltung, des Revisionismus, des reality-hacking und des permanenten Herumwirbelns brauchen wir alle Kritiker, die wir kriegen können. Die Herausforderung besteht darin, die Sprache der Kulturanalyse zu ERWEITERN, um diese zusammengesetzte Dimension zu erklären – die sich von einem Verständnisses der Macht allein in den Begriffen ihrer ideologischen Effekte zu einem Verständnis der Macht in Begriffen ihrer Fähigkeit, Affekte zu formalisieren und zu übermitteln, bewegt. Daher müssen wir die begriffe der Modulierung enthüllen – das heißt der Strukturierung der Modulierungsformel. Und das ist nicht nur ein zusätzliches oder »exzessives«, sondern ein deduktives Bemühen, auch wenn unsere Beweggründe anders aussehen mögen. Eine solche expansive Orientierung könnte dann dazu genutzt werden, eine expressive, performative Politik zu entwickeln. Das wäre eine kritische Praxis, die weniger »oppositionell« als »kompositionell« ist: eine Form von politischer Aktion, die die Modulierung der Affekte mit der Modulierung der Affekte konfrontiert. Gibt es Wege, eine solche Politik der Affekte zu machen, die nicht auf Gewalt und ihre Verhärtung der Spaltungen entlang den Identitätslinien vertraut?

– Vor vielen Jahren rief Walter Benjamin zu einem Umdenken auf. Sein Aufruf galt einer Kritik, die wie die Werbung funktionieren könnte, die den Leser mit intensiven, viszeralen Projektionen affektiv beeinflusst, welche jene Form von Nachdenken ausschalten. Er trat für Intensitäten ein, die das Leben des Subjekts wie ein »Energieaisbruch« affektiv beeinflussen.22
Aber ist dies nicht gerade das Ziel der heutigen Macht?

Aber müssen wir deshalb dasselbe Spiel spielen? Auf derselben Bühne? Mit denselben Rollen?

Aus dem Amerikanischen von Ronald Voullié.

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Anmerkungen

1. Slavoj Zizek, Liebe dein Symptom wie dich selbst, Berlin 1991.

2. See Brian Holmes, »Emancipation«, Nettime Mailing List, 5. Juli. 2004, http://www.nettime.org, und Suely Rolnik, »The Twilight of the Victim: Creation Quits Its Pimp, To Rejoin Resistance«, siehe http://ut.yt.t0.or.at/site/index.html.

3. Brian Massumi, Parables for the Virtual, Durham 2002, S. 5-17. Massumis Arbeit, die sich mit Spinoza, Bergson und Deleuze beschäftigt, ist in diesen Diskursen von großer Bedeutung.

4. Gilles Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in Unterhandlingen 1972-1990, Frankfurt a. M 1993, siehe auch http://www.n5m.org/n5m2/media/texts/deleuze.htm.

5. Giorgio Agamben, »Sicherheit und Terror«, in FAZ, Nr. 20.1.2001-

6. Ich verdanke diese Erkenntnis Louise Amoore, die mich freundlicherweise in einem persönlichen Schreiben darauf hingewiesen hat.

7. Agamben, »Sicherheit und Terror«, a.a.O.

8. Zitiert in The New York Times Book Review, 29. Juli 2007, S. 9.

9. Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1991..

10. B. Massumi, a.a.O., S. 27-28.

11. Philip Turetzky, Time, London 1998.. Dank an Retort für diese Angabe.

12. Leslie S. Hearnshaw, The Shaping of Modern Psychology, London 1987, S. 206-209, zitiert in Jonathan Crary, Suspensions of Perception:
Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge (Mass.) 1999, S. 34 (dt. Aufmerksamkeit: Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a.
M. 2002).

13. Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986.

14. J. Crary, Suspensions of Perception, a.a.O., S. 34.

15. Nigel Thrift, »Intensities of Feeling: Towards a Spatial Politics of Affect«, Geografiska Annaler, 86 B (2004), verfügbar auf http://www.geog.ox.ac.uk/~kstraus/thrift/downloads/Thrift.pdf. Ich verdanke Thrift viele Einsichten zum Affekt und zur Affekt-Politik.

16. Paul Virilio, in CTRL [SPACE]: Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother, hrsg. von Thomas Levin, Ursula Frohne u. Peter Weibel,
Karlsruhe 2002, S. 29.

17. Siehe John Armitage, »On Ernst Juenger's ›Total Mobilization‹: A Re-Evaluation in the Era of the War on Terrorism«, in Body & Society, Bd. 9 (4), 2003, S. 204.

18. Manuel De Landa, A Thousand Years of Nonlinear History, New York 1997, S. 15.

19. In dieser Terminologie ist die Bereitschaft schaffende Formel so etwas wie das Lacansche »Sinthom« – diese Variation zum Begriff des Symptoms, die sich eher auf Vergnügen als auf die Bedeutung bezieht. Dank an Gary Farnell für den Hinweis auf diese Verbindung. Siehe Slavoj Zizek, Looking Awry, Cambridge, Mass. 1991, S. 125-140.

20. Wie Brian Holmes in einem persönlichen Gespräch sagte.

21. Zu einem wichtigen Argument in dieser Hinsicht siehe Bruno Latour, »Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern«, in Critical Inquiry, Nr. 30, Winter 2004, S. 225-248.

22. Zitiert nach Menachem Feuer, »If This Space is For Rent, Who Will Move In?«, CTheory, Bd. 29, Nr. 1-2, 2/22/06, http://www.ctheory.net. Vgj. Walter Benjamin, »Diese Flächen sind zu vermieten«, in Einbahnstraßen, Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1, Frankfurt a. M. 1972, S. 131-132.