Ashwatthama

Fast jede Stadt der Welt hat ein Denkmal zu Ehren des unbekannten Soldaten. Doch so gut wie nirgendwo steht ein Denkmal zu Ehren unbekannter Bürger. Zu Ehren derer, die im Gang der Dinge all-täglicher Staatskunst umkommen. Aber das ist ein Thema für ein anderes Wörterbuch, ein spezialisiertes Wörterbuch, möglicherweise eine Art Unterlexikon über den Bürgerkrieg des täglichen Lebens, und es würde zu weit führen, hier näher ins Detail zu gehen, und uns von unserem für heute angesetzten Thema abbringen.

Ich werde heute von einem Krieger sprechen, der dazu verdammt ist, für immer auf Erden zu wandeln. Es wird nie ein Denkmal zu seinen Ehren geben, denn er darf nicht sterben. Und wenngleich er relativ wenig bekannt zu sein scheint, kann man ihn nicht als unbekannt bezeichnen. An manchen Orten, zum Beispiel dort, wo ich herkomme, ist er ziemlich bekannt. Wenn ich seinen Namen ausspreche, erkennen die Leute ihn wieder. So kann ich ihn nicht den unbekannten Krieger nennen. Er ist untot, aber er ist nicht unbekannt. Ich kann ihm kein Denkmal setzen.

Ich spreche selbstverständlich von Ashwatthama. Und ich biete Euch, im Namen des Raqs Media Collective, das ich heute hier vertrete, seinen Namen als Eintrag im Wörterbuch des Krieges an. Wenn ein Name zum Wort wird, dann wird die Last des Mannes, der den Namen trägt, etwas leichter. Denn jedes Mal, wenn jemand das Wort ausspricht, spürt der Mann, dessen Name es ist, eine helfende Hand. Ich biete Euch also einen alten Namen an, einen sehr alten Namen, und ein neues Wort, ein sehr neues Wort – Ashwatthama.

Könnt ihr mir einmal nachsprechen, damit er sich freut, es zu hören – alle zusammen

Ash – wa – tthama.

Aswatthama, der Mensch, nicht der unglückselige tote Elefant Aswatthama. Ashwatthama, Gewisper, Gerücht, Simulation eines Schlachtfeld-Tumor, Ashwatthama. Ashwatthama, Krieger, Sohn eines Kriegers. Aswatthama, unbesiegbarer Ashwatthama. Ashwatthama, verfluchter. Verfolgter, gejagter Ashwatthama. Ashwatthama, Mutterleibsräuber. Ashwatthama, Engelmacher der Zukunft, Gefangener der Zeit. Ashwatthama, Pferde scheuen, Elefanten wanken, Tankbehälter rosten, Raketen zünden fehl, Zitadellen stürzen ein, Städte entleeren sich zur Niederlage. Allein der Name Aswatthama. Ashwatthama, umherwandernder Krieger. Ashwatthama, unsterblich, untot. Unglücklicher Ashwatthama. Ashwatthama, blass, beschämt, Aswatthama. Ashwatthama, verflüchtigt, verlassen, verwüstet, Aswatthama.

Wir könnten hier aufhören und sagen: „Mehr muss man über den Mann namens Ashwatthama nicht wissen. Nur, dass der Tod ein großer Segen ist.“ Aber wir werden nicht aufhören. Wir werden weiter über Ashwatthama sprechen.

Ashwatthama war ein berühmter Kaurava-Krieger, der in der mythischen Kurukshetra-Schlacht um den Thron von Indraprastha (heute als Delhi bekannt, der Stadt aus der ich komme) kämpfte, einer Schlacht zwischen den Pandava und den Kaurava, Prinzen, Cousins, Rivalen, Feinde auf dem Schlachtfeld und im Glücksspiel. Die Erzählung dieser Schlacht ist eines der Kernstücke des Mahabharata-Epos.

Schätzungen zufolge wurde das Mahabharata zwischen 300 v. Chr. und 300 n. Chr. erarbeitet. Das heißt, dass die ersten Spuren seiner Erzählung vor ungefähr zweitausendunddreihundert Jahren irgendwo im nordwestlichen Teil dessen auftauchten, was heute Indien oder Pakistan ist. Die Geschichten des Mahabharata sind seitdem beständig erzählt worden. Sie sind eingegangen in Tempel-Friese in Vietnam und Kambodscha, in Schattenpuppenspiele in Indonesien oder Tanztheatererzählungen in Thailand, sie überlebten aber auch in zahllosen anderen Formen (als Lieder, Tanz, Poesie, Theater, Folklore, Rätsel, Redewendungen, erotischen Darstellungen, Skulpturen, Gemälde, Kino, Fernsehen und Computerspiele) in unterschiedlichen Teilen von Indien, Pakistan, Nepal und Bangladesch. Noch heute gelingt es dem Mahabharata, sich in alltägliche Gespräche über Beziehungen und Arbeit zu mischen, wie es aber auch die rhetorischen Verdrehungen in der doppelzüngigen Sprache der Politiker ausfüllen kann. Großmütter geben die Geschichte an heißen Sommernachmittagen ihren Enkelkindern weiter, die dann im Spiel zu Göttern werden, zu Transvestiten-Helden, missmutigen Kriegern, untoten Soldaten und zornigen Königinnen und das Mahabharata in ihren Körpern und Phantasien neu beleben.

In der hinduistischen Theorie der Zeit kennzeichnet der Mahabharata-Krieg den Beginn vom Zeitalter des Niedergangs – Kali Yuga –, einer Epoche voller Zwietracht, Unruhen und Kriege. Wir, die wir heute leben, sind die Bewohner von Mahabharatas Zukunftsvision. Wir leben im Beigeschmack des Kali Yuga, im Zeitalter des Verfalls. Die Vorstellung von der niedergehenden Zeit bringt uns eine kleine Erleichterung, denn wir wissen, dass zumindest eine Apokalypse schon hinter uns liegt. Eine Welt ist zu Ende und wir leben in Folge von ihrem Ende. Darin liegt ein kleiner Trost. All die eschatologischen Ängste sind ruhig gestellt, aber andere Beunruhigungen werden hervorgerufen. Wir erleben die paradoxe Situation, dass das Ende der Welt, wie wir sie kennen, nicht den Trost vom Ende der Geschichte mit sich bringt. Der Krieg geht weiter, und damit auch die Geschichte. Im Zeitalter des Verfalls zu leben, heißt in der Tat nichts anderes, als schon immer zu wissen, dass – obwohl die Apokalypse bereits hinter uns liegt – alles noch viel schlimmer werden kann, bevor es irgendwann anfangen könnte, auch nur ein klein wenig besser zu werden.

Heute führt Nordkorea einen Atomtest durch, morgen kann es Iran sein, oder „ mal wieder“ Indien, und übermorgen könnten Russland oder die USA verkünden, dass sie ihre Vorräte an chemischen und biologischen Waffen eigentlich gar nicht abgeschafft haben und dass sie gezwungen seien, diese Tatsache so spät erst zu verkünden, da Nordkorea oder Iran ja gestern einen Atomwaffentest durchgeführt haben. Die Tatsache, dass das Morgen eine mehr oder weniger unschöne Überraschung sein wird, ist an sich selbst keine Überraschung.

Wie können wir, Bewohner dieser bereits vorhergesagten Zukunft, mit dem Gift schlecht organisierten Bedauerns fertig werden? Dem unmöglichen Bedauern dessen, was unvermeidbar ist?

Lasst uns zumindest versuchen und uns mit der Idee anfreunden, dass nichts, was wir imstande sind zu sagen, den Niedergang aufhalten kann. Ashwatthamas Schatten wird nur länger, verschwinden tut er nie. Das Schlachtfeld wechselt den Ort, aber der Krieg hört nie auf. Gestern war es im Libanon, morgen irgendwo anders. Gestern sah ich in der Londoner U-Bahn einen Mann eine Zeitung lesen, in der stand, die Zahl der Toten im Irak liege bei 650.000 Menschen. Im von Indien besetzten Teil von Kashmir ist das indische Militär zusammen mit den Aufständischen für den Tod von ungefähr 80.000 Menschen der Zivilbevölkerung in den letzten zwanzig Jahren verantwortlich, und morgen wird es anderswo ähnlich weitergehen. Die Frage ist, wie wir gesund bleiben können angesichts der Tatsache, dass der Markt einen Aufschwung verzeichnet, wenn die Witwen trauern. Wie können wir fernsehen und gleichzeitig unsere Würde bewahren? Wie können wir die Zeichen unserer Zeit lesen und dennoch nachts einschlafen? Wie fühlen wir uns, wenn wir morgens aufwachen?

Ashwatthamas Schatten fällt auf uns alle. Er streift uns jedes Mal, wenn wir im Fernsehen einen von diesen Tatsachenverdrehern hören und sehen, die immer von Frieden reden, eigentlich aber Krieg meinen. Im Epos wird auch Yuddishtira, der Pandava-Prinz, der bekannt dafür ist, immer die Wahrheit zu sagen, davon überzeugt, eine Halbwahrheit zu äußern, um Ashwatthamas Vater, den Kaurava-General Kripacharya, niederzustrecken. Ein Kriegselefant, ebenfalls Ashwatthama genannt, wird getötet, und Yuddhishtira sagt in Kripacharyas Hörweite, ‚Ashwatthama hata’ (Ashwatthama ist tot), und dann im Flüsterton, ‚iti Gaja’ (ich meine den Elefanten). Der Kaurava-General Kripacharya, ganz benommen vor Kummer, hält im Kampf inne und wird mühelos von einer Serie wohl abgepasster Pfeilhageln der Pandava-Truppen getötet. Die Stimmung der Schlacht schlägt um. Voller Zorn über das Doppelspiel, das seinen Vater zu Fall gebracht hat, macht sich Ashwatthama später, um Mitternacht, auf den Weg in das Pandava-Lager und attackiert schwangere Frauen, zwingt sie zur Fehlgeburt. Er nimmt für den Tod seines Vaters Rache, indem er die ungeborenen Kinder seiner Feinde vernichtet. Wie so oft ist Krieg der Versuch, die Zukunft eines Volkes auszulöschen, aus Rache für einen in der Vergangenheit erlittenen Angriff. Jeder, der über die Geschichte des Krieges auf dem Balkan und auf Sri Lanka nachgedacht hat, wo Krieg unter anderem gleichbedeutend war mit dem Niederbrennen von Bibliotheken und dem Angriff auf Frauen und Kinder, muss erkennen, dass Ashwatthamas Zorn noch immer anhält.

Ashwatthamas nächtlichen Einbruch in die Zelte des Pandava-Lagers mit dem Ziel, die Föten in den Leibern der Pandava-Frauen zu töten, kann man auch als eine Vorform der biologischen oder chemischen Kriegsführung deuten. Die Geschichte der Eugenik des 20. Jahrhunderts, in welcher Form auch immer sie sich abgespielt hat, ob als Ergebnis der Politik der Eugenik der USA oder im sozialdemokratischen Skandinavien, oder Nazi-Deutschland oder mit dem Ziel der Entwicklung und der Familienplanung, ist eine Wiederholung von Ashwatthamas Überfall auf die Kinder der Armen oder bestimmter Gruppen von sozialen oder ethnischen Minderheiten, die als Feinde der Zukunft angesehen wurden.

Erkennt ihr nun Aswatthama? Seht ihr nicht seine müden, hohlwangigen Gesichtszüge? Er ist überall, er ist es, der Coltan durch Krieg im Kongo abbaut, damit unsere Mobiltelefone und unsere Laptops funktionieren, er ist ein Arzt in einem Zwangssterilisationslager, irgendwo, manchmal ist er auch ein GI im Irak oder ein Aufständischer in Afghanistan, er ist ein untoter Zombie-Selbstmordattentäter im Gaza-Streifen und ein Folterer der indischen Geheimpolizei in Kaschmir. Er ist ein Infanterie-Soldat, der die Straßenkreuzungen in Bangkok bewacht, während sich das Militär zum Retter der Demokratie aufschwingt. Er ist ein Kriegsberichterstatter, der euch günstige Meldungen von fernen Kriegen bringt, er ist ein Diplomat, ein Waffenhändler, er kann auch dein lokaler Parlamentsabgeordneter sein.

Ashwatthama wird nicht sterben, denn der Krieg ist eine Art zu leben. Krieg ist eine Lebensform, den sich der Kapitalismus angeeignet hat: Er hat gelernt, ihn von seinen Vorgängern zu klonen und auszubrüten und wie einen Virus über den ganzen Planeten zu verteilen.

Wenn der Krieg, der endlos scheint, kein Ende nimmt, wenn eines Tages sowohl der letzte Soldat als auch der letzte Zivilbürger tot und die Wälder und Wiesen zu Wüsten vertrocknet sind, selbst dann wird noch der Schatten von Ashwatthama auf Erden weilen und darauf warten, dass vielleicht, durch einen Zufall, neues Leben auf der Erde entsteht, und damit wieder die Möglichkeit zur Zwietracht.

Damals, auf dem Schlachtfeld, sprach Yuddhistir (der, der selbst mitten im Kampf ruhig bleibt), berühmt dafür, dass er immer die Wahrheit sagt, eine berühmte und todbringende Lüge. Er sagte, Ashwatthama sei tot, und dann versuchte er, seine Lüge zu vertuschen, indem er auf die noch warme Leiche des toten Elefanten deutete, der auch als Ashwatthama bekannt war. Aber Ashwatthama starb nicht an diesem Tag. Er kann nicht sterben.

Auch wir, die wir heute hier in Graz sitzen, könnten lügen. Wir könnten sagen: “der Krieg ist vorbei” - und auf uns selbst deuten, darauf, dass in uns selbst kein Krieg ist, da wir ja nicht kämpfen. Unser Kriegselefant schläft friedlich in uns. Der Krieg ist anderswo – in Kaschmir, Nagaland, Afghanistan, Irak, Palästina, Amerika, vielleicht in London oder in Delhi oder Bombay, aber nicht hier, im ruhigen Mitteleuropa, nicht in Graz. Wir könnten weitermachen und sagen, wir hätten nicht das Geringste zu tun mit dem Krieg, und die Lüge wäre für uns nur noch eine mythische Wahrheit – wir könnten sagen, Entschuldigung, aber der Krieg ist vorbei. Er endete für uns in dem Moment, als er begann, wo auch immer er begann. Wir waren in keinster Weise daran beteiligt. Wir lehnen ihn ab. Wir lehnen diesen Krieg kategorisch ab. Er geht uns nichts an. All das könnten wir sagen, sogar als Menschen, die gegen Kriege sind. Mit reinem, guten Gewissen.

Ich befürchte, das wird nichts daran ändern, Ashwatthama von seiner Strafe des ewigen Lebens zu erlösen. Die Ablehnung des Krieges, zusammen mit der Ablehnung des Todes, die der Krieg mit sich bringt, wo auch immer er sich ereignet, ist die eine Seite dessen, was den Krieg am Laufen hält. Ich muss leider sagen, dass das ruhige Mitteleuropa in den Krieg verwickelt ist. Eure Mobiltelefone klingeln aufgrund der Kriegserträge im Kongo. Eure Laptops leuchten im Nachglanz der Kämpfe. Euer immer enger werdender Begriff vom Bürgerrecht ist ein fleckig umgekehrtes Spiegelbild von der Figur des Flüchtlings. Auf der Flucht vor dem anderswo stattfindenden Krieg, versucht ihr ihn jenseits der Grenzen zu halten. Die Ausgrenzung des Flüchtlings bestimmt euren Begriff von der Beteiligung an dieser Gesellschaft. Ohne sie könnt ihr nicht sein, was ihr heute seid. Ashwatthama ist hier. Und das Schlachtfeld ist vor eurer Nase. In diesem Raum. Erkennt ihn wieder, wenn ihr ihn, Aswatthama, das nächste Mal seht, dann nämlich, wenn ihr das nächste Mal eure Wiederspiegelung im Spiegel betrachtet. Ich sehe ihn jeden Tag – immer, wenn ich die meinige sehe.