Disziplin
Militärischer Gehorsam ist freiwillige oder erzwungene Komplizenschaft mit staatlich organi-sierter Gewalt. Soldaten töten und setzen ihr Leben aufs Spiel und sichern so einen elementa-ren Anspruch des Staates: das Recht und die Fähigkeit, Krieg zu führen. Die staatliche Macht wiederum exekutiert an den Soldaten ihren ebenso grundlegenden Anspruch, souverän über Leben und Tod ihrer Bürger zu verfügen. Für die Armee zählt der einzelne Soldat nur nach Maßgabe seiner Brauchbarkeit für den militärischen Auftrag. Disziplinieren heißt fungibel machen, heißt Bearbeitung des „Menschenmaterials“ zum Zwecke gesteigerter Tauglichkeit und vertiefter Unterwerfung.
Soldaten sind gezwungen, den objektiven Widerspruch zwischen allgemeinem Ge-waltverbot und auf die staatlichen Organe beschränkter Gewaltbefugnis subjektiv auszubalan-cieren. Sie nehmen auf Befehl hin Handlungen vor, die allen übrigen Gesellschaftsmitgliedern schwerste Bestrafung einbringen würden. Ihre Tätigkeit bleibt, so sehr im Zeitalter technisier-ter Kriegführung die konkreten Verrichtungen auch industrieller Arbeit gleichen mögen, Kampf auf Leben und Tod oder Vorbereitung darauf. Um als effektives Instrument politischer Souveränität fungieren zu können, müssen Armeen jeden Soldaten dazu bringen, die Staatsrä-son höher zu stellen als die eigene und sein Leben zugunsten des militärischen Gesamtzwecks aufs Spiel zu setzen.
Abrichtung zum Soldaten bedeutet jedoch nicht nur Erzeugung von Todes- und Tö-tungsbereitschaft, sondern ebenso ihre Kontrolle. Auf den einzelnen Soldaten ist ein Höchst-maß an Disziplinierungstechniken gerichtet, und Abweichungen werden härter geahndet als anderswo. Für die geforderten Unterwerfungsleistungen bietet das Militär jedoch Kompensa-tionen. Dem Befehl „Du sollst!“ ist eine Lizenz „Du darfst!“ beigegeben. Soldaten ist nicht nur viel mehr verboten als anderen Menschen, ihnen ist – zumindest im Krieg – auch viel mehr erlaubt.
Der Krieg ist einerseits „ein erweiterter Zweikampf“ (Clausewitz), und er ist anderer-seits effiziente Anwendung von Gewalt – killing people and destroying things. Beide Momen-te lassen sich nicht voneinander ablösen, zu beidem soll die die militärische Gehorsamspro-duktion befähigen, aber jedes von beiden impliziert einen anderen Gehorsamstyp: Die Diszip-linierung zum Kämpfen ist „heiß“ – sie mobilisiert, entgrenzt, schürt die Leidenschaften; die Disziplinierung zu effizienter Gewaltanwendung ist „kalt“ – sie kontrolliert, reglementiert, zügelt die Affekte. Die Mischungsverhältnisse ändern sich, und die Geschichte militärischer Disziplinierung lässt sich schreiben als Wechsel zwischen eher „heißen“ und eher „kalten“ Epochen.
Militärischer Gehorsam ist zweifach codiert: Soldaten gehorchen nicht nur dem Reg-lement und den Befehlen ihrer Offiziere, entscheidend für den Zusammenhalt der Truppe und ihre Gewaltbereitschaft sind ebenso die soziale Kontrolle und die affektiven Bindungen in der Kameradengruppe. Das Militär ist eine strikt hierarchisch gegliederte, rationalisierte Organi-sation, es ist aber auch ein egalitärer Männerbund, der sich über den Ausschluss von Frauen konstituiert und homoerotische Libido in Aggressivität nach außen transformiert. Wenn auch die Anforderungen der beiden Normengefüge einander häufig widersprechen, so beruht die Effizienz militärischer Disziplinierung nicht zuletzt darauf, dass es den Kommandierenden gelingt, sich die jenseits der Befehlshierarchie wirksamen und teilweise gegen diese gerichte-ten Kohäsionskräfte zunutze zu machen. Initiationsriten, informelle Ehrenkodizes und Bestra-fungsmechanismen, schließlich kollektive Überschreitungen wie Alkoholexzesse, Vergewal-tigungen, Plünderungen oder Massaker kompensieren die Zumutungen der formalen Disziplin und stiften zugleich jene verschworene Gemeinschaft, auf welche die „offizielle“ Gehorsams-produktion angewiesen ist, ohne sie doch herstellen zu können. Was die Autorität der Vorge-setzten allein nicht zu erzwingen vermag, bewirkt der Konformitätsdruck durch die Kamera-den, auf deren Unterstützung und Wohlwollen der einzelne zumal in Kampfsituationen exis-tentiell angewiesen ist.
Soldaten müssen gewillt sein, auf Befehl hin Gewalt anzuwenden, sie müssen es aber auch können. Militärische Disziplinierung hat deshalb nicht nur zu formieren und zu normie-ren, sondern auch zu qualifizieren, hat nicht nur Kampf- und Gehorsamsbereitschaft zu erzeu-gen, sondern auch die Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, die sich aus den technischen wie organisatorischen Erfordernissen der Kriegführung ergeben.
Schon weil die militärische – wie jede – Gehorsamsproduktion zu einem guten Teil aus Ungehorsamsprävention besteht, ist mit der Norm stets auch die Abweichung gesetzt. Den unterschiedlichen Formen der Disziplinierung korrespondieren ebenso unterschiedliche Formen ihres Scheiterns. Armeen fabrizieren nicht nur folgsame, tapfere und technisch effi-ziente Soldaten, sondern auch Deserteure, Kriegsdienstverweigerer, Meuterer, Überläufer, Selbstverstümmler, „Kriegsneurotiker“ und „Simulanten“, ganz zu schweigen vom Heer der „Kriegsunfreiwilligen“ (Michael Geyer), die zwar Soldat sein, aber nicht unbedingt kämpfen wollen und ihren Dienst nur widerstrebend verrichten. Das Verhältnis von Gehorsam und Un-gehorsam ist indes alles andere als symmetrisch: Situationen, in denen Verweigerung und Aufbegehren die „Wehrkraft“ merklich „zersetzen“ konnten, sind mehr als selten. In aller Regel gelingt es dem Militärapparat, seinen Bedarf an „Menschenmaterial“ in ausreichender Menge und Qualität zu decken. Oft brauchen die künftigen Soldaten nicht einmal durch Ge-walt oder Gesetz gezwungen zu werden, sondern Sold und Sozialprestige, patriotische Imagi-nationen, die Faszination der Waffen oder bloß Unzufriedenheit mit dem zivilen Leben lassen sie aus freien Stücken in die Kasernen ein- und auf die Schlachtfelder ausrücken.
In einem berühmten Kapitel seiner Studie „Masse und Macht“ entwirft Elias Canetti eine Anthropologie der Disziplin. Im Zentrum steht dabei das Bild vom Befehl als Pfeil: Der Befehl, schreibt Canetti, „wird abgeschossen und trifft. Der Befehlshaber zielt, bevor er ihn abschießt. Er wird jemand ganz Bestimmten mit seinem Befehl treffen, immer hat der Befehl eine gewählte Richtung. Er bleibt im Getroffenen stecken; dieser muß ihn herausziehen und weitergeben, um sich von seiner Drohung zu befreien.“ Jeder Befehl, so Canetti weiter, „be-steht aus einem Antrieb und einem Stachel. Der Antrieb zwingt den Empfänger zur Ausfüh-rung, und zwar so, wie es dem Inhalt des Befehls gemäß ist. Der Stachel bleibt in dem zurück, der den Befehl ausführt. (...) Es kann Jahre und Jahrzehnte dauern, bis jener versenkte und gespeicherte Teil des Befehls, im kleinen sein genaues Ebenbild, wieder zum Vorschein kommt. Aber es ist wichtig zu wissen, daß kein Befehl je verlorengeht; nie ist es mit seiner Ausführung wirklich um ihn geschehen, er wird für immer gespeichert.“ Wie der Befehl selbst ist auch der Stachel nicht assimilierbar, „als fremde Instanz lebt er im Empfänger fort und nimmt ihm jedes Gefühl von Schuld“. Loswerden kann dieser ihn nur in einer Situation, die der des empfangenen Befehls zum Verwechseln ähnlich sieht, in der allerdings selbst das Kommando führt.
Der Inbegriff des Befehlsempfängers ist der Soldat. Dieser befindet er sich, so zumin-dest das von Canetti gezeichnete Idealbild, „immer in einem Zustand bewusster Befehlserwar-tung“. Weil er in einer durch Befehle strukturierten Welt lebt, sammeln sich die Stacheln in ihm, und kein Soldat könnte ihren Druck ertragen, böte das militärische Leben nicht auch vielfältige Chancen, die Stacheln durch Umkehrung wieder abzustoßen. Insbesondere der Krieg verschafft dazu mannigfache Gelegenheit. Seine Waffe und die Legitimation, sie zu benutzen, verleihen dem Soldaten jene unhintergehbare Macht, der er sich als Befehlsemp-fänger stets ausgeliefert sah. Der Militärdienst und erst recht der sogenannte „Ernstfall“ be-schneiden ganz entschieden die persönliche Freiheit der Rekruten, aber sie ermöglichen ihnen auch, den Zwängen des zivilen Alltags bzw. des Kasernenlebens wenigstens eine Zeit lang zu entkommen und die dort angesammelten Befehlsstachel loszuwerden. Diese Verbindung von unbedingter Subordination und zeitlich wie räumlich begrenzter Freistellung von zivilen Normen unterscheidet das Militär von anderen Disziplinarinstitutionen. Die Armee ist nicht nur „Schule der Nation“, die mit den gehorsamen Soldaten zugleich zuverlässige Arbeiter und loyale Bürger produziert, sie ist ebenso das „ganz Andere“ von Familie, Werkstatt oder Büro und bezieht nicht zuletzt daraus ihre Anziehungskraft. Die Gewalt, die von Soldaten ausgeht, ist, das hält Canettis Bild vom Pfeil und seinem Stachel fest, nicht nur ein Effekt militärischer Abrichtungspraktiken, sondern hilft auch deren Zumutungen kompensieren.
Ein kurzer Abriss zur Geschichte militärischer Disziplinierung: Als Fundament der Soldatenausbildung galt und gilt bis heute der Drill. Erfunden, genauer gesagt, wiederentdeckt und systematisiert nach antiken Vorbildern in den niederländischen Heeren des ausgehenden 16. Jahrhunderts, avancierte das regelmäßige Exerzieren minutiös festgelegter Bewegungsab-läufe rasch zur Basisoperation der Soldatenfabrikation. Der „wohlexercirte Soldat“ verwan-delt sich, so Canettis Formel, in eine „stereometrische Figur“, die in Hab-acht-Stellung auf Befehle des Vorgesetzten wartet. Der Drill setzt zwar am Körper an, er stellt aber zugleich ein hocheffizientes psychotechnisches Verfahren dar: Wenn die Soldaten täglich über längere Zeit ihre Gliedmaßen nach vorgeschriebenen Regeln im Takt bewegen, so erzeugt diese Syn-chronisierung der individuellen Motoriken – ähnlich wie beim Tanz – eine elementare Form sozialen Zusammenhalts. Lässt man die Soldaten nur lang genug die Griffe und Marschforma-tionen üben, so kostet es sie irgendwann mehr Anstrengung, aus dem Tritt zu fallen, als spon-tan in den Marschschritt der Truppe einzuschwingen. In der Extremsituation einer Schlacht trägt dieser fast schon vegetative Zusammenhalt nicht unwesentlich dazu bei, eine Auflösung des Truppenkörpers zu verhindern.
Die Disziplin, die sich durch Dressur und die sie flankierenden Kontroll- und Bestra-fungspraktiken erzwingen lässt, bleibt allerdings an die Präsenz der disziplinierenden und strafenden Macht gebunden. Der Gehorsam endet, sobald es gelingt, sich dem Blick der Vor-gesetzten zu entziehen. In der Metaphorik Canettis gesprochen: Auf den einzelnen Soldaten wird zwar eine Unzahl von Befehlspfeilen abgeschossen, aber diese dringen nicht sonderlich tief ein, und ihre Reichweite bleibt begrenzt. Mit solchen Truppen ließen sich militärische Erfolge nur erzielen, solange man es mit Gegnern zu tun hatte, die ihre Mannschaften in ähn-licher Weise abrichteten und ihre Kriege nach den gleichen Prinzipien führten. Das zeigte sich spätestens nach 1789, als die Heere der antifranzösischen Koalition gegen die kaum ausgebil-deten Freiwilligen-Bataillone und die Reste der regulären Armee des revolutionären Frank-reich nicht, wie erwartet, einen leichten Sieg davontrugen.
„Enthusiasmus“ war die Schlüsselkategorie der neuen Epoche. Nicht aufgrund äußeren Zwangs, sondern aus innerer Überzeugung sollten die Soldaten gehorchen. Die Ausrichtung des „Geists“ erhielt Vorrang vor der Abrichtung der Körper; wichtiger als die filigranen Exer-zitien des Drills wurde jetzt die Mobilisierung der Leidenschaften. Während die Fabrikation disziplinierter Individuen auf systematischer Ausschaltung aller spontanen Regungen beruht, steht die patriotische Mobilmachung vor der paradoxen Aufgabe, Spontaneität zu organisie-ren. Enthusiasmus lässt sich nicht einüben, sondern allenfalls stimulieren. Das macht einen gänzlich anderen Diskurstyp nötig: Die Sprache der Disziplin ist technisch, die Rhetorik der Leidenschaft evoziert, beschwört, berauscht. Die Drillmeister hatten Manuale der Ordnung verfasst, die Künder des Enthusiasmus schrieben Oden an das Vaterland. Als literarisches Stürmen und Drängen begann, was vom Freikorps Lützows bis zu den Studentenbataillonen vor Langemarck zur praktischen Gewalt werden sollte. Hatte der Drill – bildlich gesprochen – den Feldherrn und Offizier zum Maschinenmeister gemacht, so brauchte man zur Vorberei-tung der nationalen Erhebung charismatische Pyrotechniker, die das patriotische Feuer anzu-fachen wussten.
Der von den Predigern der vaterländischen Ersatzreligion geforderte Gehorsam be-zieht sich nicht auf staatliche Gesetze oder obrigkeitliche Anordnungen, sondern auf die Er-füllung der Mission nationaler (Wieder-)Geburt. Nicht klar definierte Befehle galt es zu be-folgen, sondern sämtliche Kräfte für Volk und Vaterland zu mobilisieren. Der Soldat besaß nun etwas, zumindest wollten es die Propagandisten der völkischen Erweckung so, das den Söldnern des ancien régime völlig fremd gewesen war: Er hatte ein Vaterland, und er hatte einen Feind. Galt bis dahin für den gemeinen Mann unumstößlich die Maxime „Nicht räson-nieren!“, so mußte man ihm jetzt zumindest soviel Mündigkeit zugestehen, wie es brauchte, um sich die Logik nationaler Befreiung zu eigen zu machen.
Man könnte sagen, die Befehlspfeile zielten nun ins Herz – in das Herz, das die Ro-mantiker besangen, deren Protagonisten zugleich die literarische Vorhut der nationalen Mobi-lisierung bildeten. Es hieße jedoch Canettis Bild zu überdehnen, versuchte man auch diese nach Maßgabe von Befehl und Gehorsam zu begreifen. So kategorisch auch die Imperative des Nationalen auftreten, so wichtig stereotype Wiederholung für alle Propaganda ist, anders als Gewehrgriffe und Marschformationen lassen sich Feindbilder und völkische Imaginatio-nen nicht auf Kommando andrehen und nicht durch regelmäßige Übung eindrillen. Wer glaubt, er habe ein Vaterland und es sei ehrenvoll, für dieses zu sterben, der fügt sich nicht widerstrebend oder aus eingedrillter Routine einer überlegenen Macht, sondern sucht mit die-ser zu verschmelzen. Mit dem Befehl, wie Canetti ihn beschreibt, verbindet die patriotische Mobilmachung allerdings die beiden inhärente Todesdrohung. Die Vernichtung, welche die Feinde des Vaterlands treffen soll, schwebt immer auch über jenen, die sich nicht im Kampfe aufzuopfern bereit sind.
Während die Geburtsstunden des Drills und der nationalen Enthusiasmierung präzise zu datieren sind, gewann der dritte Mechanismus militärischer Gehorsamsproduktion, die funktionale Anpassung der Soldaten an die technische Struktur der Waffen und Waffensyste-me, in einem länger dauernden und alles andere als gradlinigen Prozess die Oberhand. Able-sen lässt sich diese Verschiebung zu einem durch die Technik dominierten Gehorsamsver-ständnis an der Ausdifferenzierung von Funktions- und Haltungsdisziplin: Auf der einen Seite sollen Kasernierung, Drill sowie der unüberblickbare Katalog der Kleidungs-, Sauberkeits- und Grußvorschriften jenen Typus soldatischer Haltung hervorbringen, die Moltke auf die bündige Formel „Autorität von oben, Gehorsam von unten“ brachte. Auf der anderen Seite muss der Soldat im Sinne der Funktionsdisziplin zum Techniker mutieren, um seine Aufgaben im Rahmen industrialisierter Kriegführung erfüllen zu können. Das Fahren eines Kraftfahr-zeugs etwa kann nicht eingedrillt werden. An die Stelle des durch Dressur genormten Ein-heitsinfanteristen ist eine Vielzahl technischer Experten getreten, deren Aufgaben ebenso sehr variieren wie die erforderlichen Qualifikationen.
Damit verändert sich noch einmal die Reichweite des Befehls: Canetti hatte den Solda-ten als jemanden charakterisiert, „der auf keine Anregung von außen eingeht, der starr dort steht, wohin man ihn gestellt hat, der seinen Posten nicht verläßt, den nichts verlocken kann, etwas zu tun, was er sonst gern täte und oft getan hat“. Von diesem „Zustand des Negativis-mus“ hat sich der moderne Zerstörungsspezialist weit entfernt. Mit dem Grad der Technisie-rung und der Komplexität der eingesetzten Technologien potenziert sich der Anteil an Tätig-keiten, die Eigenverantwortung, Fachkompetenz und die Fähigkeit zu nicht befehlsgesteuerter Kooperation erfordern. Statt minutiös das Verhalten des einzelnen zu reglementieren, werden Aufträge erteilt, die genauen Modalitäten der Ausführung aber bleiben de¬n Befehlsempfän-gern überlassen. Die Vorgesetzten kommandieren nicht mehr den Ablauf, sie bestimmen das Ziel und kontrollieren das Ergebnis.
Um Rekruten auf Haltungsdisziplin zu dressieren, bedurfte es der Präsenz einer damit beauftragten und dazu befähigten Person, die kommandierte, überwachte und sanktionierte. Um opferwillige Vaterlandsverteidiger zu erzeugen, brauchte es Menschen, die „kriegerischen Geist“ und patriotischen Enthusiasmus selbst verkörperten und dadurch weitergaben. Die Funktionsdisziplin dagegen hat ein anderes Subjekt: Die Maschinerie selbst erzieht ihr Perso-nal. Die technische Apparatur als Disziplinierungsinstanz unterdrückt nicht die Leidenschaf-ten wie die Drillmeister, sie schürt sie nicht wie die Pyrotechniker des Nationalen, sie kann sie vielmehr ignorieren, weil sie ihre Forderungen mit der Unabweislichkeit sachadäquaten Ver-haltens erhebt.
Canettis Befehlspfeile finden weiterhin ihr Ziel, aber für die Getroffenen wird es im-mer schwieriger auszumachen, wer sie abgeschossen hat. Wenn die Gehorsam gebietende Macht in der Gestalt technischer Rationalität erscheint, läuft nicht nur die Suche nach dem Befehlshaber ins Leere, sondern muss auch jeder Versuch scheitern, sich in Umkehrung der Ausgangslage in dessen Position zu bringen und so die im Fleisch steckenden Stachel loszu-werden. Weil die Kommandogewalt abstrakt wird und sich nicht mehr auf ein identifizierba-res Subjekt zurechnen lässt, fehlt dem Befehlsempfänger das Objekt, um sich für die erlittene Unterwerfung schadlos zu halten. Das macht seine Suche nach Opfern, an die er seine Stachel weitergeben kann, so vergeblich wie beliebig: Weil keines das richtige ist, sind es alle – ein fatales Paradoxon, das die Gewalt jedem Kalkül (und damit jeder Begrenzung) entzieht. Selbstverständlich gibt es auch in zeitgenössischen hochtechnisierten Armeen hierarchische Kommandostrukturen und gilt dort das Prinzip von Befehl und Gehorsam. Das Hauptgewicht der Ausbildungsanstrengungen aber liegt bei der fachlichen Qualifizierung der Gewaltspezia-listen, und die funktionale Differenzierung der Militärorganisation entwertet die an den Dienstgrad gekoppelte Autorität.
Disziplinierung ist Sozialtechnologie. Die den Disziplinierungsdiskursen adäquate Metaphorik ist deshalb die der Maschinen, die disparaten Formen der Gehorsamsproduktion finden ihre Entsprechung in den der jeweiligen Epoche spezifischen Maschinentypen: Das Disziplinideal des absolutistischen Zeitalters war mechanisch – präzise wie ein Uhrwerk soll-ten die Bewegungen der Truppen-Körper-Maschine ablaufen, und Soldatenabrichtung war die Kunst des Rädchenschleifens. Von den napoleonischen Kriegen bis zum Zweiten Weltkrieg dominierte das Modell der energetischen Maschine – der Funke des Enthusiasmus sollte über-springen, das patriotische Feuer geschürt werden und die Soldaten sich in Brennstoff verwan-deln, um das Kräftepotential von Armee und Nation zu steigern. Die Disziplin des Informati-onszeitalters ist kybernetisch – wie die Rüstungstechnologie und die Truppe als Ganze er-scheint auch der einzelne Soldat als komplexes System; disziplinieren heißt die verschiedenen Systemelemente und Teilsysteme kompatibel zu machen und so zusammenzuschalten, dass ihre Leistungsfähigkeit optimiert wird.
Der Gestalt des Soldaten wie den Praktiken der Soldatenfabrikation haftet inzwischen allerdings auch etwas Antiquiertes an: Auf der einen Seite lässt die Automatisierung der Kriegführung nicht nur die Unterschiede zwischen militärischer und ziviler Disziplin ver-schwimmen, sondern ermöglicht auch die Ersetzung des Menschen. Ein Minimum an Perso-nal reicht aus, um ein Maximum an Zerstörung zu erzeugen. Auf der anderen Seite hört der Krieg wieder auf, eine ausschließlich staatliche Veranstaltung zu sein. Die marodierenden Banden, die das Töten auf eigene Rechnung und bisweilen nur als Wochenendbeschäftigung betreiben, wissen ebenso wie die suicide bombers, diese Partisanen der asymmetrischen Krieg¬führung, auch ohne Befehle, gegen wen sie ihre Waffen zu richten haben. – Ein Ende der Gewalt ist nicht absehbar, aber braucht sie noch gehorsame Exekutoren?
Dieser Frage hat sich nicht zuletzt jede Militärkritik zu stellen, will sie sich nicht darin bescheiden, den Krieg zu beklagen und den Frieden zu beschwören. Die Maschinenmetapho-rik affiziert auch die Modelle antimilitaristischer Praxis, die – von der Kriegsdienstverweige-rung bis zum Militärstreik – darauf abzielt, die Kriegsmaschinerie aufzuhalten, zumindest aber zu bremsen. Eine Militärkritik, welche die Subversion des Gehorsams noch immer nach dem Vorbild des Sands im Getriebe oder der Energiekrise – „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin!“ – begreift, reicht indes an ihren Gegenstand längst nicht mehr heran. Von außen oder durch Entzug ihrer personellen Ressourcen ist die militärische Maschinerie kaum mehr zu bremsen. Umso dringlicher alle Anstrengungen, sie ins Leere laufen zu lassen oder von innen heraus zu zersetzen. Vermut¬lich ist überhaupt davon Abschied zu nehmen, Wider-stand ausschlie߬lich als Bremswirkung zu denken. Zeitgemäßer wäre vielleicht das Bild vom Computervirus, der die Rechner bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf Hochtouren laufen lässt, ohne dass je ein Ergebnis herauskäme.