Verschwunden

In Kriegszeiten verschwinden Menschen nicht einfach, sie verschwinden bei hellem Tageslicht. Los Desaparecidos. Ungeklärter Fall, nie wieder gesehen. Einige sind glücklich genug, um zu überleben, aber sie leben deshalb nicht in Frieden, sie werden zum Krieg. Durch ihre Reaktionen enthüllen sie eine Realität, die af anderen Wegen vielleicht nicht zugänglich ist: der Krieg ist nie zuende. Er glimmt einfach unter der Oberfläche. beriet, bei der kleinsten Gelegenheit auszubrechen und selber zu zeigen, was es mit ihm auf sich hat. Krieg ist mit dem Frieden eins geworden, so wie der Tod mit dem Leben eins geworden ist.

Ich kam in die Notaufnahme eines Krankenhauses in der Nähe von New York, nachdem man festgestellt hatte, dass mein Herz zwanzig Mal zu groß war. Das war eine Menge Herz für einen Mann. Sie hatten kein Bett in der Kardiologie frei, deshalb verlegten sie mich in die Krebsstation. Ich kam gerade rechtzeitig, um zu hören, wie der Arzt meinem Zimmergenossen die Neuigkeit verkündete, dass er Krebs im letzten Stadium habe. Der Arzt zog einen dünnen Vorhang zwischen dem Bett seines Patienten und meinem, und ich konnte hören, wie seine Stimme ruhig die Möglichkeiten des Mannes aufzählte, Chemotherapie etc. Ich hatte das Gefühl, dass er unser Todesurteil unterschrieb. In dieser Nacht hatte ich einen sehr angenehmen Traum. Vielleicht wegen der starken Dosis Morphium, die man mir am Abend gegeben hatte. Ein schrecklicher Alptraum wäre normal gewesen,, aber nein. Vielleicht war die Vorstellung des so nahen Todes befreiend, wenn nicht gar auf seltsame Weise belebend. Es gab nichts mehr zu fürchten.

Ich bin nicht sehr leicht in Furcht zu versetzen. Ich fürchte nie vor etwas. Bevor ich Frankreich verließ, hatte ich einen engen Freund namens Henri M. Als wir 16 waren, erzählte er mir, dass er keine Idee habe, was Schuld sein soll, und das war für mich völlig einleuchtend, als ich später darüber nachdachte. Denn er war voller Schuld. Er hatte keine Distanz. Furcht ist nicht anders. Man weiß nicht einmal, ob sie da ist. Das half mir, etwas von meinen eigenen Reaktionen zu verstehen. In lebensbedrohlichen Situationen lebe ich immer auf, ich habe nie verstanden, warum. Es ist so, als ob ich sie mein ganzes Leben lang geprobt hätte. Ich habe zwei Jahre auf den Wüstenhochebenen gelebt, die an den Iran grenzen, und selbst Züge, die durch die Berge fuhren, waren nicht sicher. Eines morgens wachte ich auf, als der Zug einen Abhang hinunter stürzte. Er kippte um und blieb halb in der Luft hängend liegen, Ich wusste genau, was zu tun war. Das war wie ein Tanz in Zeitlupe, oder als ob man im Auge des Orkans leben würde. Dostojewskis epileptischen Anfällen gingen immer solche unheimlichen Zeiten der Stille voraus. Aber dann würde es explodieren und die Welt würde zusammenbrechen. Ich bin immer darauf vorbereitet, dass dies geschieht, und genieße den Gedanken daran wahrscheinlich sogar. Aber die Welt ist auf seltsame Weise immer noch da, und ich auch.

Henri und ich waren gleich alt und hatten sehr ähnliche Erfahrungen. Er wollte gern ein großer französischer Intellektueller sein, ein Claude Lévy-Strauss, ein Jacques Lacan – das war in Paris Anfang der 60er Jahre –, aber er lebte weiterhin sein Leben in der Zeitform der Möglichkeit, als ob er auf das zurückblicken würde, was es hätte sein können. Mit einer Ausnahme, als er sich an einem Baum aufhängte. Und selbst das führte zu nichts. Sein Tod war lange Zeit ungewiss. Er wurde drei Monate später im Wald von Fontainebleau, in der Nähe von Paris entdeckt. Er war kaum zu erkennen. Er hatte es geschafft, im Tod zu verschwinden, wie er in seinem Leben verschwand. Er war der letzte »Verräter«, ein Sartrescher Begriff, den Henri sich nur zu gern zu eigen gemacht hatte, um sein eigenes Elend zu erklären. Aber er brauchte nichts zu verraten, die bloße Tatsache seiner Existenz war ein Verrat. Es gab natürlich einen Präzedenzfall. Sein Vater war in einem Konzentrationslager gestorben, wer könnte also etwas dagegen sagen? Alles, was er tun konnte, war gleichzuziehen.

Als ich jung war, las ich ein Buch von Victor Hugo, Der Lachende. Aus irgendeinem Grund habe ich es immer behalten. Das war nichts, worüber man wirklich lachen konnte. Der Mann im Titel (ein Erbe des französischen Throns, glaube ich) war als Kind entstellt worden, so dass ihn niemand erkennen konnte. Vielleicht hat er sich nicht mal selbst erkannt. Seine Entführer haben beide Mundwinkel bis zu seinen Ohren aufgeschnitten, so dass dieses groteske Grinsen auf seinem Gesicht festgefroren war. Keiner konnte sich vorstellen, dass der Mann innerlich am Heulen war. Ich habe mich immer gewundert, wie es unsere Eltern geschafft haben, dass wir andere Namen annahmen. Ich war drei, meine Schwester fünf. Eines Tages erzählten sie mir, wie sie es gemacht hatten. Mein Vater hatte meine Schwester beiseite genommen, und meine Mutter kümmerte sich um mich. Den ganzen tag wiederholten sie: »Die Deutschen bringen kleine Kinder um. Wenn du deinen wahren Namen sagst, wirst du umgebracht.« Und meine Mutter fügte hinzu: »Es hat tatsächlich funktioniert.«

Letztes Jahr kam ich vom Flughafen Charles de Gaulle am Gare du Nord in Paris an. Als ich durch den Bahnhof ging, stieß ich plötzlich auf eine kleine Anzeigetafel – Hunderte von Fotos, auf flachen Plättchen, etwa so, wie sie bei den französischen Lokalwahlen in den Schulen aufgehängt werden. Ich hatte dort noch nie ein Ausstellungsstück gesehen. Es gab keinen Titel, die Bilder waren klein. Ein Gepäckstück in der Hand haltend, trat ich näher. Es waren Schwarz-Weiß-Fotos, rechts unten standen einfach Namen, Altersangaben, Adressen. Rue de Turenne, Rue des Pyrénées, Rue d’Hauteville... Das hatte ich nicht erwartet. Mir wurde eiskalt. Diese Familien waren direkt unten verladen worden, auf den Bahnsteigen, die ich gerade verlassen hatte, Kinder und alle anderen. Für einen kurzen Moment, vergaß ich, wo ich war.

Diese Fotos waren keine Schnappschüsse. Fotos waren damals noch etwas besonderes, und die meisten waren in einem Fotoatelier aufgenommen worden. Einige waren retuschiert. Sie sollten dauerhaft sein. Die Leute auf diesen Bildern waren nicht so glücklich. Sie hatten keine Ahnung, was sie da draußen erwartete.

Ich habe seit Jahren Kontakt zu Fotographen im Leichenschauhaus und beschäftige mich mit Fotos von Verbrechen. Und ich bin mit einem Polizeivideofilmer namens George Diaz befreundet, der Tatorte von Verbrechen für den Brooklyn D. A. dokumentiert. Ich habe sogar einen Film mit Chris Kraus gedreht, der den Titel How to shoot a Crime hatte,, in dem ich zu sehen bin, wie ich auf einem Bett liege, mit dem Gesicht nach unten. Diaz hatte das genauso gefilmt, wie er echte Tatorte in Brooklyn filmte, vier Körper, drei Männer und eine Frau, eng nebeneinander auf einem Bett aufgereiht, mit abgeschnittenen Köpfen. Ein schief gelaufener Drogendeal. Die Dealer hinterließen eine klare Botschaft. Sind Träume Botschaften, die jede Nacht gesendet werden, wenn wir unseren Kopf verlieren und zu phantasieren beginnen? Ich wollte das Verbrechen als ein spezielles Performance-Stück studieren, als etwas, das nur einmal gescheht. Zumindest gab es ein Vorher und ein Nachher. Ich wollte herausbekommen, was es mit dem Tod auf sich hat, um sicher zu stellen, dass ich am Leben war.

Das erinnert mich an Bilder, die James van der Zee, der berühmte Harlemer Fotograph, mir zeigte, kurz bevor er starb, Bilder von Toten, die er früher aufgenommen hatte. Auf Van der Zees Bildern hielt ein Paar ihr totes Baby auf den Armen, als ob es noch am Leben wäre. Das war unbeschreiblich. Der Körper eines Mannes, umgeben von seiner ganzen Familie in ihren besten Kleidern. Der Mann schien sich auszuruhen. Keiner sah besonders traurig aus. Alle posierten, auch der Verschiedene. Auch diese Fotos machten eine Aussage Sie sagten, dass man sich bis zum letzten Ende um den Toten gekümmert hatte, der Tod erstreckte sich bis ins Leben. Diese Bilder wurden der Familie im Süden, in der Karibik geschickt. Das war ein Ritus des Übergangs, ein Zeichen des Respekts. Selbst die in der Ferne hatten Anteil daran. Sie würden nicht diese schrecklichen Träume haben, in denen der Tote zurückkommt, um sie an ihre Pflicht und Schuldigkeit zu erinnern.

Ich hatte einen Traum dieser Art einige Monate nach dem Tod meines Vaters- Er kann zurück, aber ich erkannte ihn nicht. Er war ein kleiner, zurückhaltender Mann, der plötzlich groß und ärgerlich wurde. Er machte, Pelzmäntel und spannte nasse Kaninchenhäute auf kleine Holzlatten, die an die Glaswände gelehnt wurden, mit ausgestreckten Pfoten. Nun zog er mit einer großen Latte durch seine Werkstatt und schlug rechts und links nach mir, wie Samson im Tempel. Es war blind. Ich verkroch mich in einer Ecke, versuchte, seiner Wut zu entgehen.
Jeder hat dann und wann solche Träume. Was ich im Bahnhof gesehen hatte, waren Fotos von Menschen, die nie die Chance hatten, zu sterben. Auch sie trugen ihre besten Kleider, aber der Tod war nicht an seinem Platz (wie die Franzosen sagen, wenn ein Buch nicht an seinem Platz in der Bücherei ist). Es ist schwierig für diejenigen, die nach ihnen kommen, diesen leeren

Platz nicht einzunehmen und im Inneren ihrer selbst zu sterben. Es gibt immer die Versuchung, das Bild zu vervollständigen, wie es mein Freund Henri tat.
Ich schaute weiterhin auf die Fotos, den Koffer immer noch in der Hand, starrte auf die Gesichter, überprüfte Namen, Adressen. Ich sah mir alles an, erwartete, unser Bild dort zu sehen, wo wir hingehörten. Aber es fehlte an seinem Platz, so wie ich an meinem gefehlt hatte. Was wäre geschehen, wenn ich es an der Wand gesehen hätte, wie es mir ins Auge sah, als ob ich kein Recht hätte, dort zu stehen? Natürlich wird es nach all dem fragwürdig, zu glauben, dass man am Leben ist, oder alles für sein Eigentum zu halten. Es ist, als ob man auf einer dritten Ebene lebt und sein eigenes Leben so betrachtet, als ob es jemand anderem gehören würde. Und als ob jemand anderer in einem selbst lebt. Das ist schwer zu erklären. Vielleicht hilft ein anderer Traum. Es geht wieder um meinen Vater. Ich träumte, er wäre nie gestorben, hätte sich all die Zeit versteckt wie während des Krieges. Er sah ziemlich jung aus, und frisch rasiert. Und ich fragte ihn: »Wie konntest du das tun? Du hast nicht mitgekriegt, wie all deine Kinder und Enkel aufgewachsen sind.« Und Chris Kraus sagte einfach: »Es war nicht er in dem Traum, sondern du.«

Ich hatte damals noch einen Traum, als ob die wenigen Träume, an die ich mich erinnern kann, weiterhin an derselben Tür lauern und hereinzukommen versuchen würden. Ich bin in einem römischen Theater, Leute in weißen Togas liegen im Kreis auf den Marmorstufen. Das erinnert mich an die erste Abhandlung, die Freud schrieb und die »Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva« heißt. Gradiva ist eine Erzählung, die in Pompeji spielt.. In Freunds »Gradiva« geht es um die Mechanismen künstlerischer Schöpfung. In meinem Traum um das Schreiben und die Rückgewinnung der Vergangenheit. Die Römer in den Togas sind Schriftsteller. Sie machen sich alle über mich lustig, weil ich auch einer sein will. Einer deutet in meine Richtung und sagt laut: »Dieser Mann hat kein Herz. Es hat ein Herz in Radium.« Wie kann jemand ohne Herz jemals ein Schriftsteller sein. Schreiben kommt vom Herzen, und meines ist in Asche begraben. (Freuds Metapher war als Archäologie maskierte Prophetie. Die Vergangenheit stand immer noch bevor.)

Einige Zeit danach hatte ich einen weiteren verwirrenden Traum. Ich weiß nicht genau, wo ich bin. Auch bin ich nicht allein. Ich versuche, ein Stück Papier zu verstecken, Leute, die mich verfolgen. Das Papier ist mehrere Schichten dick, wie ein Pergament, ein dickes Stück Leder mit vielen Schichen. Ich trage es bei mir, versuche, es vor Leuten zu schützen, die es erhaschen wollen. Aber ich kann es nicht verschwinden lassen – es ist hellrot – und sie finden es und ich muss sie wieder abwehren. Dann verwandelt sich das Textstück in lebendiges Material – ein Stück Fleisch, ein Schwarm von schwarzen Ameisen –, das ebenfalls aus Schichten besteht. Und es greift mich an. Ich versuche, dieses blutige Ding zu erledigen, indem ich Klumpen herausreiße, aber es wächst wieder nach. Es ist dick und schleimig. Ich sehe kein Blut an meinen Händen, aber da ist dieses fleischige Gefühl. Ich hämmere weiter auf dieses Fleisch ein, das nicht weichen will.

Die Leute in meinem Traum machen sich nicht über mich lustig, vielleicht versuchen sie sogar, zu helfen. Sie wollen den Fleischbrocken von mir abbringen, mich in die Gegenwart zurückbringen. Könnte ich nicht einfach aufgeben, sein wie jeder andere? Ich wehre mich heftig. Kann man Krieg auf die Couch bringen? Denn es ist genau das, was ich bin. Ich bin Krieg, und nichts sonst. Andere – alle – merken vielleicht nicht, dass sie wie ich sind. Krieg hört nie auf, ändert nur die Namen. Man kann ihn ebenso wenig stoppen wie mich. Die Vergangenheit ist unsere Zukunft, die Zukunft versteckt sich in unserer Gegenwart. Ich kümmere mich um das Urteil, das auf mein Fleisch geschrieben ist, um mehr als um alles andere, weil jeder andere es auch hat. Ich trage es einfach auf der Brust wie ein General, für jedermann sichtbar. Es ist hellrot, wie könnte es jemand übersehen? Aber es könnte innen gelb sein. Dieses dicke Papier war kein Stück Geschriebenes, sondern ein Stück von meiner Haut mit etwas Geschriebenem darauf, ein Pergament, ein Palimpsest, eine alte Schrift, die mich als Receptaculum benutzt, als ob mein gesamter Körper eine heilige Schriftrolle wäre und ich mein Bestes tun würde, um sie zu schützen und mich vor ihr zu schützen. Aber ob sie auf mir lastet oder ich auf ihr, kann ich nicht sagen. Alles, was ich weiß, ist, dass sie lastet und lastet. Kein Herz zu haben, bedeutet vielleicht, immer noch zu viel Herz zu haben. Hat die Stimme in meinem Traum nicht gesagt: »Dieser man hat kein Herz. Er hat ein Herz in Radium.« So habe ich doch ein Herz, und es ist in irgend etwas. Ich hatte zunächst nur den klareren Teil des Orakels zur Kenntnis genommen. »Radium« ist weniger klar. Man kann es mit bloßem Auge nicht sehen. Die Wirkung von Radium ist völlig unsichtbar, aber deshalb ist es nicht weniger tödlich. In Tschernobyl haben Hubschrauber und Panzer einen Feind bekämpft, der nicht zu sehen war, und die Opfer liefen danach immer noch herum, als ob nichts geschehen wäre, und merkten nicht, dass ihr Ende besiegelt war. Diese Leute sind lebende Tote. Aber ich denke, das sind wir alle. Wir alle sind einem unaufhörlichen Angriff ausgesetzt, und wir verschließen uns wie eine Muschel. Wir pflegen weiterhin unseren Tod im Inneren, wie ein Baby.

Was die Stimme mir im Traum erzählte, machte keinen rechten Sinn. »Dieser man hat kein Herz. Er hat ein Herz in Radium.« Die Aussage widersprach sich selbst. Wie konnte der Mann kein Herz und ein Herz »in Radium« haben? Das war, als ob zwei Menschen miteinander sprechen würden und nicht nur einer. Sie hatten eine Auseinandersetzung, die zweite Stimme widersprach dem, was die erste gerade gesagt hatte. »Nein, das ist nicht wahr. Sein Herz fehlt nicht, es nur nicht an seinem Platz.« Aber damals hat der Traum das nicht gesagt. Er sagte nicht, dass mein Herz in Radium ist, er sagte nur, ich habe ein Herz in Radium. Geht es nun wirklich um dasselbe Herz, und ist dies wirklich mein Herz? Also ein anderes Herz. »Ein Herz in Radium.« Dabei musste ich an ein Organ denken, das in Formalin aufbewahrt wird. Formalin ist ein Desinfektionsmittel, aber es dient auch dazu, Körperteile aufzubewahren, die ansonsten verfallen würden. Gehirne, Föten etc. Einsteins Gehirn ging für ein halbes Jahrhundert verloren und wurde schließlich vor ein paar Jahren in einem Einweckglas schwimmend auf dem Schreibtisch von irgendjemandem wieder gefunden, wie in einem Goldfischglas. Nun denn, mein Herz schwamm auch in meiner Brust herum und wartete darauf, gefunden zu werden.

Die andere Stimme in meinem »Gradiva«-Traum hatte gesagt, dass das fehlende Herz an einem anderen Platz gefunden werden könne. Aber wo? In der Nacht, bevor ich diesen Traum hatte, war ich für einen kurzen Besuch von New York nach Paris geflogen. Die Nacht davor hatte ich bei meiner Mutter gegessen, und wir hatten den Abend damit verbracht, alte Fotos aus Polen anzuschauen. Meine Mutter vergötterte ihren Vater, und sie musste noch heute immer weinen, wenn sie seinen Namen aussprach. Ich erinnere mich, wie sie an jenem Abend weinte. Sie holte einen alten Schuhkarton heraus und zeigte mir die letzte Post, die sie ihm geschickt hatte, nachdem die Deutschen in Polen einmarschiert waren. Zwei vergilbte Postkarten mit hastigen Zeilen auf der Rückseite. Man konnte das Entsetzen spüren, das zwischen den Zeilen lauerte. Beide waren mit der großen roten Briefmarke der Kommandantur zurückgeschickt worden, ein Adler, der ein Hakenkreuz in den Klauen hielt. Vor dem Krieg hatte meine Familie in der Nähe des Warschauer Gettos gelebt. Es war, wie damals üblich, eine große Familie, und nur vier haben überlebt. 1939 hatte mein Großvater beschlossen, zu seinem Geburtsort im Süden Polens zurückzukehren. Es hielt das in schwierigen Zeiten immer für sicherer. Während des Ersten Weltkriegs, als die Deutschen in Warschau einmarschierten, war die ganze Familie dorthin gezogen. Es war eine kleinere Stadt, und die Österreicher, die sie besetzt hatten, behandelten die Leute etwas besser. Auch hatten sie etwas zu essen.

Mein Großvater wohnte mit meinem Onkel Adam im Getto, dem Jüngsten in der Familie. Adams wirklicher Name war Adolf, aber er hatte ihn geändert, als er in Dachau ankam. Onkel Adam war ein großer und gut gebauter Mann und stand immer vor meinem Großvater, wenn sie zur Selektion antreten mussten. Eines Tages, als er von der Arbeit zurückkam, merkte er plötzlich, dass sein Vater weg war. Bis heute weiß niemand, was mit ihm geschehen ist. Meine Mutter sagte nie: »Er wurde umgebracht.« Sie betonte: »Er wurde verbrannt.« Über ein halbes Jahrhundert später ist ihr Zorn noch immer ungemildert, und er wird nicht mit ihr sterben.

Beide Postkarten, die sie mir an diesem Abend zeigte, trugen auf Deutsch die folgende Bemerkung »Unter dieser Anschrift unbekannt«, geschrieben mit roter Tinte in einem großen Rechteck. Ihr Vater war immer noch an seinem Platz vermisst wie ich an meinem. Ich betrachtete weiterhin die Poststempel, versuchte herauszukriegen, was dort geschrieben stand. Sie waren schwer zu lesen. Meine Mutter verstand und sagte: »Radom«. Ich sagte: »Was?« Und sie sagte: »Die Postkarten wurden aus Warschau zurückgeschickt, aber dort war er nicht mehr, er war in Radom. Radom war der Name seines Geburtsortes.«

Sylvère Lotringer

Aus dem Amerikanischen von Ronald Voullié.