War, Nuclear
Vor einigen Jahren, ich hab vergessen wann, doch sicherlich vor Beginn des neuen Millenium, da bekam ich eine Einladung von ein paar Afrodread-Cyberheads, die ihr Hauptquartier am Hackeschen Markt hatten. Die Gegend um den Hackeschen Markt, früher ein Shtetl im Osten Berlins, ist heute ein bekanntes Viertel wegen der schicken Cafés, Restaurants, Clubs und wegen der hochgewachsenen Prostituierten dort, die ein bisschen wie Barbiepuppen wirken. In ihrer e-mail baten mich die Afrodread-Cyberheads einen Blaxploitation-Film auszuwählen.
Seit ich ein Buch über Blaxploitaition-Filme der 70er herausgebracht hatte, galt ich als 'Experte' auf diesem Gebiet, einen Titel, den ich völlig lächerlich fand, war doch meine Recherche kaum mehr gewesen, als den Daumen auf der Vorlauftaste meines Videorecorders zu halten und einige sarkastisch Bemerkungen zu machen, über Filme wie Blacula, Coffy, Willie Dynamite und den verwirrend merkwürdigen Fim Welcome Home, Brother Charles. Wie auch immer, solche Einladungen waren nichts Neues.
Man sagte mir, diese Filme seien in Europa unbekannt (bald entdeckte ich, dass das nicht stimmte, denn als Darktown Strutters lief, ein Film den in den USA keiner kennt, war der Blechcontainer, der als Kino diente, voll wie eine Sardinenbüchse mit allerlei Sorten deutschsprachiger Transen). Überflüssig zu sagen, dass ich die Einladung akzeptierte, als ich von der Höhe meines Honorars erfuhr. Es war ein Meeting übers Wochenende, mit Referaten, Multimedia-Präsentationen, Vorlesungen, Diskussionen und einem good old Harlem-style Chit'lin Banket (soweit das in Berlin möglich war). Die Beiträge widmeten sich alle dem Thema 'Schwarze Diaspora im Cyberspace'. Der Begriff Schwarze Diaspora bezieht sich üblicherweise auf die weitreichenden Konsequenzen der Middle Passage - der Entwurzelung der Afrikaner von ihrem Land, ihren Traditionen und ihrer Versklavung durch andere Völker. Wie auch immer, diese Konferenz hat nicht nur die 'Bedeutung' der Diaspora um einige Aspekte erweitert, sie hat ihr auch einen einen futuristischen Drall verpasst.
Aber um beim Thema zu bleiben: welcher Film wäre hier angemessen? Bop guns und Mothership Connections schienen unvermeidlich. Doch da wollte ich nicht hin. Ich ging zum Godfather. Nein, nicht zu James Brown, sondern zu Sun Ra... der Schlüsselfigur des Triumvirats des AfroFuturismus, zusammen mit Lee 'Scratch' Perry und George Clinton - jeder von ihnen, entgegen den Behauptungen der Verschwörungstheoretiker unter uns (die glaubten, in Zukunft würde es GAR KEINE Schwarzen mehr geben; ausgelöscht vom völkermordenden Idiotismus von The Man's tricknology), hatte Mythologien erschaffen, die das Überleben der Schwarzen bis weit in die Zukunft prophezeiten. Und wenn nicht hier, dann dort. Out there.
Die Tagung war gut besucht. Leute kamen aus ganz Europa, um die Auswirkungen des Internet auf eine hybridisierte europäische black identity zu untersuchen. Für meine Begriffe hatte die Idee von Europa, das Potential des Internet und Blackness immer schon die Verflüssigung der Identitäten angeregt - im Gegensatz zum festgefügten, monolithischen und letztendlich falschen Konzept der Blackness, wie es die Afro-Zentristen vertreten. Die Existenz der Schwarzen an sich, in Europa, verwies unmittelbar auf die transformative Beschaffenheit von Identität und Kultur. Was nicht nur die Frage nach dem Überleben eher dunkelhäutiger Leute bis hin in die Zukunft impliziert, sondern gleichzeitig die mannigfaltigen Mittel und Wege aufzeigt, die überhaupt Überleben ermöglichen. Diese Existenz transformierte die eigentliche Idee europäischer Identität (was für manche, selbstverständlich, das absolute Ende von whiteness bedeutete -- ein nicht unattraktiver Gedanke).
Der eine Film, der aus dem Genre ‘blaxploitation’ am besten zur Konferenz passte, war Space is the Place, ein 1974er Release mit Starbesetzung: Sun Ra und sein Intergalactic Solar Arkestra. Bis der hübsche Junge Billy Dee Williams, als Londo Calrissian, in The Empire Strikes Back in einem Kostüm aufgetrat, das Willie Dynamite würdig war, bis dahin war Space is the Place einer der wenigen Science Fiction Filme aus den Siebzigern mit prominenten schwarzen Darstellern (ein anderer ist Abar, der erste Schwarze Superman). Space is the Place ist sowohl ein Dokument dieser Zeit als auch der Kosmischen Trümmer, die durch Sun Ra's Hirn schwebten: Teleportation durch musikalische Vibrationen, Schwarzer Utopismus, Ägyptologie, kosmische Duelle mit kosmischen Luden, Zeitreisen, und jene Art von Schwarzer Mythologie, die sogar Elijah Muhammed schwindelig gemacht hätte. Perfekt geeignet für Europas hochmoderne Neger.
Wie auch immer, nach etwa 30 Sekunden Einführung wurde mir klar, dass diese makellos frisierten und gutgekleideten jungen Schwarzen, die mich umringten, keinen Schimmer hatten wovon ich redete. Nicht die Spur! Jeder DJ in Berlin, der seine Plattensammlung wert ist, weiß, wer zum Teufel Sun Ra ist. Aber nicht diese Leute! Ich war platt!
Die Luft war stickig, voller Ressentiment. Zumindest eines zog sich durch meine Berlin Erfahrung: Ressentiment erfuhr ich nicht weil ich Schwarz, sondern weil ich Amerikaner war. So viel zum romantischen Konzept von Solidarität.
Ein junge Hipster, der seine Dreads wie Seile um den Kopf gewickelt hatte, so dass sie aussahen wie ein Wespennest, sprang mir bei und versuchte, dem Publikum Sun Ra's seltsame Mathematik in allgemeinverständlichen Begriffen zu erklären. Das beste was er schaffte war, immerhin, Sun Ra mit seiner eigenen anwachsenden kulturellen Identität zu vergleichen.
Das neue Millenium kam und kickte jeden in den Arsch. Hart.
Ich lebte in völliger Armut (fragt nicht. Es reicht zu sagen, dass es eine düstere und durchgedrehte Scheiße war, bis, um genau zu sein, die Scheiße noch dunkler und durchgedrehter wurde.) Wie auch immer, als die Lage ihren Tiefpunkt erreicht hatte, wurde ich kurz vor zwölf 12 doch noch gerettet; ein Paar, mit den Engeln verbündet, bot mir einen Job an. (Ich kannte auch ein Paar, das stand mit gefallenen Engeln im Bunde, aber das ist eine andere Geschichte.)
Es ging darum, eine Show für ein neues Radio-Projekt vom Bootlab zu entwickeln und zu produzieren (Bootlab ist ein Hacker-Thinktank und ein öffentliches Forum für Künstler, Akademiker und Aktivisten in Berlin). Während ich an dieser Radiosendung arbeitete, begann ich über eine Veranstaltungsreihe nachzudenken, die das Leben und Werk von Sun Ra feiern sollte. Immerhin ist auch Berlin eine magische Stadt, wie Sun Ra's Geburtsort Birmingham, Alabama.
Ich hatte gerade einen Artikel beendet für die Anthologie American Monsters: 44 Black Hats, Rats and Plutocrats, herausgegeben von Mark Jacobson und dem inzwischen verstorbene Jack Newfield. Der Text handelte von Elijah Muhammad dem Gründer der ‘Nation of Islam‘. Und ich las das Stück mit dem Titel Der Weiße Mann ist der Teufel in meiner Sendung Chasin' the Dragon's Tail with Doctor Snakeskin. Am Ende der Sendung spielte ich einen Titel von Sun Ra, den er für Amiri Baraka's Theaterstück Black Mass geschrieben hatte (das die Geschichte von Mr Yacoub und die Enstehung der Weißen Rasse dramatisierte).
Als ich aus dem Studio kam, rief ich Diana mit ihrem Heißluftballon von einem blondierten Afro zu, wir sollten Sun Ra und seiner Musik ein 24-Stunden-Programm widmen: Interviews, Vorträge, DJ-Experimente, Performances, Vorführungen.
All Sun Ra All The Time würde Leute aus allen Ecken der Stadt anlocken, um das Leben und die Kunst eines der großen Visionäre des Zwanzigsten Jahrhunderts zu feiern. Auch würden 24 Stunden Sun Ra non-stop die Cyber-dreads mit einer Welt außerhalb der starren Grenzen des kommerziellen Hiphop in Berührung bringen.
In meinen wildesten Träumen nannte ich Sun Ra den neuen heiligen Paten Berlins – für expatriotische Künstler, Immigranten und Weltraumreisende. Mit der außerordentlichen MusikerPopulation in der Stadt machte das absolut Sinn. Berlin ist ein lebendes Museum von Weltmusik. Leider jedoch sollte All Sun Ra All The Time nicht sein.
Bootlab verlor seine Finanzierung. Dann hörte ich über Buschfunk, dass mich jemand fertig machen wollte. Irgendein Szenetyp ließ den Namen Peter Dennett fallen. Ich war in Stimmung und so wählte ich seine Telefonnummer und sagte: Whaddup, muthafucka? Heard you want me to break my foot off in your ass!! Es stellte sich allerdings heraus, dass an der Sache nichts dran war; eine dritte Person hatte dummes Zeug geredet. Wir schafften das Problem aus der Welt und schlossen Freundschaft. Durch sein Londoner Label Artyard Records erfuhr ich, dass Peter nicht nur alte Aufnahmen von Mister Re wieder herausbrachte, sondern auch dessen Sachen, von denen es gar keine Platten gab.
Das brachte mich auf eine Idee.
Bootlab konnte im Tesla Gebäude mit Radio 1:1 im Juni und Juli'06 weitermachen. Mir wurde ein Sendetermin am Mittwochnachmittag gegeben und meine Sendung wurde in Dr. Snakeskins Hoodoo Kitchen umbenannt. Dann, während einer durchfeierten Nacht, heckte ich etwas mit der Köchin von Urban Comfort Food in der Zionkirchstraße am Prenzlauer Berg aus. Wir legten uns auf Sonntag fest. Peter kam aus London. Brad Fox half beim Kochen.
SUN RA'S SOUL-FOOD SUNDAY!!!
* Chopped Pork Barbecue
(Gegrilltes Schweinefleisch)
* Collard Greens with Hamhocks
(Grünkohl mit Eisbein)
* Beans and Rice
(Bohnen und Reis)
* Cornbread
(Maisbrot)
* And for desert:
Little Richard's Georgia Peach Sorbet!
Alle möglichen Leute kamen vorbei. Afrikaner. Franzosen. Griechen. Italiener. Rumänen. Honkie Amerikaner. Und Negroes, von denen ich nicht geahnt hatte, dass sie in Berlin überhaupt möglich seien. Auf die typische Weise der amerikanischen Neger aßen sie alles weg! Saugten sogar die Knochen leer! Peter legte die Saturn-Platten von Sun Ra auf. Es gab lebhafte Diskussionen. Neue Freundschaften wurden zementiert. Wir wurden sogar mit Donna Browns feinem Gesang beschenkt. Donna Brown ist in Deutschland ein Superstar der Gospelszene. Wenn Sie irgendwo lesen: Black Harlem Gospel Singers, da steckt Donna Brown dahinter.
Die Abenddämmerung fand mich traumverloren außerhalb des Restaurants. Brad und ich hatten unsere Job gut gemacht. Trotz der Tatsache, dass wir jeder nur siebzehn Euro verdient hatten, war der Start "Operation Sun Ra" ein voller Erfolg. Dann wurde mir klar, was das nächste Stück im Puzzle sein würde (und hatte noch nichtmal eine Ahnung davon, dass ich Stücke eines Puzzles zusammensetzte).
Eine Frau lief vorbei, ihr Sommerkleid bauschte sich im warmen Abendwind. Ein Zettel flatterte auf meinen Tisch. Auf dem Zettel stand ein Name: Ina Roter. Außerdem eine Telefonnummer und eine E-mail-Adresse. Ich sollte sie wegen meiner Schreibwerkstatt kontaktieren. Als ich sie vor der Haustür am Nachbarhaus traf, fragte ich, ob sie Schriftstellerin sei. "Nein", gab sie über die Schulter zurück: "Ich bin Sängerin." Irgendwann später fand ich ihren Künstlernamen heraus, Quio.
Tausend und sechshundertdreißig Wörter später fragen Sie sich vermutlich, was es mit meiner Sun Ra Obsession eigentlich auf sich hat und was das alles mit "Nuclear War" zu tun haben könnte? Ich könnte lügen und behaupten, mein Interesse für Sun Ra begann, als ich in den Achtzigern auf die Lower East Side zog. Eben dort traf ich eine Menge Free Jazz cats aus den Sechzigern und mein bester Freund Klu-Cenaton Chu-Amon (Denny Davis) war einer von ihnen. Wenn ich lügen und Ihnen das erzählen wollte, dann würde ich tatsächlich Khu-Cenatons Geschichte erzählen. Er war ein erstaunliches menschliches Wesen. Saxofonist, Flötist und Bühnenzauberer. Konnte Kaninchen aus seinem Horn ziehen. Ungücklicherweise hat Wild Irish Rose, ein ‘verstärkter Wein’, beliebt bei den Bewohnern der Bowery, diesen Black Muthafucker umgelegt. Nein, mein gegenwärtiges Interesse an Sun Ra entstand aufgrund einer Begegnung mit Dr. John* auf der Lower Eastside. Dieses Treffen mit dem großartigen Pianisten aus New Orleans iniziierte mein nächstes Langzeitprojekt: Eine Untersuchung, welchen Einfluss Voodoo auf die populäre Amerikanischen Kultur hatte.
Die Voodoo-Zeremonie, wie sie im Westen praktiziert wird, ist eine der Nachwirkungen des transatlantischen Slavenhandels. So ist eine Mixtur aus Liedern, Tänzen und Trommelmusik verschiedenster afrikanischer religiöser Zeremonien und Katholischer Liturgie (und viel hochprozentigem karibischen Rum) entstanden, die als Brücke zwischen Normalsterblichen und den Göttern dient, herbeigeführt durch eine göttliche Extase. Ich begann mich zu fragen:
Wie haben sich diese alten afrikanischen religiösen Praktiken seit ihrer Ankunft an den Küsten Nordamerikas verwandelt? Welche neuen und radikalen Formen haben diese Praktiken dabei entwickelt? Wie veräussert sich ihr Geist in der zeitgenössischen Gesellschaft Amerikas? Wie wurden diese Praktiken erneuert? Und was verheißen diese neuen Formen der kulturellen Zukunft Amerikas?
Sun Ra spielt eine bedeutende Rolle für die Veränderung der afrikanischen Spiritualität unter den Mitgliedern der afrikanischen Diaspora. Und er ist ein Schlüssel zu den obenstehenden Fragen.
In derselben Woche war Peter zu Gast in meiner Sendung. Er wollte seine neue Sun Ra Ausgabe, "Disco 3000", bekanntmachen. Nach anfänglicher Plauderei spielte Peter ein Stück, das zu spielen den Londoner Radiostationen, wie er sagte, verboten war:
Nuclear War YEAH!
They're talking about
Nuclear War YEAH!
It's a motherfucka IT'S A MOTHERFUCKA!
Don't you know? DON'T YOU KNOW?
If they push that button! IF THEY PUSH THAT BUTTON!
Your ass gotta go! YOUR ASS GOTTA GO!
The blast you! THEY BLAST YOU!
So high in the sky! SO HIGH IN THE SKY!
You can kiss your ass goodbye! YOU CAN KISS YOUR ASS GOODBYE!
You can kiss your ass! YOU CAN KISS YOUR ASS!
Goodbye, goodbye! GOODBYE, GOODBYE!
Ich heulte. Gelächter hallte im Studio. Strom knisterte durch die weingetränkten Synapsen meines Gehirns. Das Lied war eine Offenbarung. Lapidar, witzig und einfühlsam in seiner Einfachheit. Ich musste irgendwie ein Teil dieses Songs werden.
Der Show Disco 3000 folgte ein Event, das sich Diana ausgedacht hatte: die Hacker Szene sollte Sun Ra kennenlernen. Ihre Idee? Den Fernsehturm am Alexanderplatz mit einem Schwarm mechanischer Kakerlaken anzugreifen. Diana rief Peter Dennett, Karl Heinz Jeron (einen Künstler, der kleine ferngesteuerte Roboter bastelte) und mich an. Ich sollte die Pressemitteilung schreiben:
Apocalypso: Der kosmische Kriegstanz von Sun Ra’s Armee der Athropodialen Transistoren
Als der Komponist und Mystiker Sun Ra am 30. Mai 1993 zu seinem Geburtsstern Saturn zurückkehrte, hinterließ er ein beträchtliches und mannigfaltiges musikalisches Werk. Bis heute war ein Großteil dieser Musik nicht für das Publikum zugänglich.
Aber Dank einer Reihe von séancen in den Studios von Radio 1:1 hat Mister Re uns mitgeteilt, dass Sun Ra am Sonntag, den 30. Juli 2006 zwischen 16 und 18 Uhr in astraler Form wieder auf unserem Planeten erscheinen und eine spezielle Botschaft für uns Erdenbewohner mitbringen wird. Und er kommt nicht allein. Er wird von seiner Armee Athropoidaler Transistoren begleitet:
"Wir werden Berlin angreifen!" kicherte er. "Das ist eine Kriegserklärung! Krieg, Baby! Don't be fuckin' with us! Y'all can kiss my black Saturnian ass! Deep Tongue that muthafucka!" Unser erstes Ziel ist der Fernsehturm am Alexanderplatz! Meine Waffen?!! Zwei volle Stunden sonarer Angriff -- oder akustische Magie -- aus meinem riesigen Nachlass unveröffentlichter Aufnahmen. Ich und meine Transistoren werden den kosmischen Tanz tanzen. Den kosmischen KRIEGsTanz. Es is die Apokalypso, Baby!"
--- A direct spirit communication from Sun Ra on Saturn
Und so wars. Außer, Berlin hat gewonnen. Der eigentlich Plan war, den Alexanderplatz mit dem "joyful noise" der mechanischen Kakerlaken zu füllen (und damit Berlin und seine Sonntags-Shopper in die Knie zu zwingen). Leider wurde die Sendung von Radio 1:1 vom Fernsehturm selbst blockiert. Ich flehte Sun Ra an, aber es half nichts, die Kakerlaken zuckten und zappelten auf einem spärlichen Flecken Gras am Alexanderplatz, wie vergiftet von einem Insektizid, einen traurigen und sinnlosen Tod sterbend.
Irgendwann zwischen Sun Ra’s Apocalypso und der zweiten Ausgabe des Wörterbuch des Krieges, nahm ich meine Schreibwerkstatt wieder auf. Die Gruppe bestand aus englischen Muttersprachlern und englischsprechenden Deutschen. Ich war der einzige ’Amerikaner‘ (ich fühlte "Deutsch", auch wenn das einzige, was ich in dieser Sprache zustande brachte, war, ein Glas Rotwein zu bestellen). Wir trafen uns einmal die Woche, Freitag abends. Ich lebte wie ein Einsiedler, also war der Workshop der wöchentliche Höhepunkt meines sozialen Lebens. Es gab immer etwas zu essen und Wein; eine Praxis, die ich Mitte der Neunziger mit den mittellosen Studenten entwickelt hatte, die ich in meinem Haus in Brooklyn unterrichtete. Ich nahm kein Geld für meine Workshops. Ich betrieb Tauschhandel. Ich bin ein guter deutscher Sozialist.
Quio gehörte zu den regelmäßigen Teilnehmerinnen der Werkstatt. Im Gegenzug bot sie an, den stolzen und vornehmen Zungenschlag der arbeitsamen Einwohner Norddeutschlands zu unterrichten. Quio lehrte durch Gesang. Die Bedeutungen der tatsächlichen Wörter waren zweitrangig. Ihre Arbeitsweise war viel organischer. Ihr Fokus war Klang, Atem und Muskel. Das Sprechen war aktiv, körperlich. Es bezog die Übung des Verstandes, des Muskels und des Geistes mit ein. Sie brachte mir bei, dass Sprache etwas engagiertes sei. Ich realisierte, dass die deutsche Sprache tief in der Kehle lebte. Quios Herangehensweise war so ähnlich wie die eines Gesangslehrer. Oder wie die Methode eines Schauspielers. Oder, tatsächlich, so, wie ich das Schreiben verstehe: Sprache in ihre physischen und psychischen Bestandteile von Klang zu zerlegen. Unsere Sessions nahmen die Gestalt von 'Mantras' an. Alan Watts brachte es auf den Punkt, als er sagte: was man während dieser sich immer wiederholenden Abfolge von Vokalen aufsage, sei ganz gleich; -- Hallelujah, Allah is Great, Pass the Mogen David, Hail Satan! or Space is the Place -- der Effekt ist derselbe. Es geht um eine ekstatische Änderung im Bewusstsein. Meine Ekstase war deutsch. So kam es, dass Quio und mich die Idee traf, Nuclear War zusammen zu singen. Und danach Enlightenment. Quio ist tief religiös. Das war unser Geheimnis. Atem ist die Stimme Gottes. Die Tastatur meines Computers kann kein Hebräisch.
Außerdem hat Quio was von Ella Fitzgerald. Ihre Stimme hat dieses spitze, freche, dieses spielerisch Herausfordernde, das man in den Versen hört, die von kleinen rattenschwänzigen Mädchen beim Springseil Springen aufgesagt werden. Wie kann eine weiße norddeutsche Hausfrau so funky sein? Sie hat wirklich soul. Du kannst das nicht verstecken… UP MUSIC: Rick James' Super Freak. Fade.
Ein anderes Mitglied des workshop war der lokale Musikpromoter Ran Huber. Zuerst schlug ich vor, einen Live Event am Ende einer unserer Freitagnachtversammlungen zu organisieren und Leben und Arbeiten von Sun Ra zu feiern. Ran akzeptierte die Herausforderung eines Organisationstalents, suchte eine Location und machte die Sache publik. Inspiriert von dem populären Clip Pink Elephants, der im Internet zu finden war, bat ich einen Videographer (der anonym bleiben möchte), Bildmaterial von verschiedenen Disney Filmen mit Sun Ra’s Tribute an Walt Disney Second Star to the Right zusammen zu schneiden. Dabei passten auch Passagen von Space is the Place zu Szenen von Mary Poppins, Song of the South und anderen populären Disney-Filmen. Das Egebnis war unglaublich witzig. Und hoffentlich wird auch es eines Tages seinen Weg ins Netz finden.
Quio und ich machten uns an die Arbeit von Nuclear War Enlightenment. Wir entschieden, sie solle auf englisch und ich auf deutsch singen. Sie machte die Übersetzungen und ich kontaktierte den legendären Jazzbassisten Sirone Jones. Wir trafen uns und legten eine Reihe von Proben fest.
Unterdessen bekam ich einen unerwarteten Anruf von Donna Brown, die jemanden für ein Musikvideo brauchte. Es wären hundert Euro drinn. Ich ging hin. Umgehend, besprüht mit einer Prise Wunschstaub, werde ich zum Neger Gospel Sänger von Harlem. Aber der Witz ist: wir sind die Begleitung für zwei der lahmsten Popsternchen auf dem Planeten. Ich wusste weder, wer sie waren -- a singing salt and pepper couple -- noch wollte ich es wissen. Sie sangen diese Art von Kitsch, die Leute zu rituellem Lustmord treibt. Give me Heino any day.
In der Garderobe zogen sie mir einen knöchellangen kastanienbraunen Kittel an. Ich sah aus wie einer der Charaktere aus King Vidors Hallelujah. Donna zeigte uns wie die Bewegungen mit der Synchronspur zusammengingen. Schunkelnder, händeklatschender, lustiger Negerquatsch. Oh, Happy Day! When Jesus walked! Alles was noch fehlte war Mahalia Jackson.
Ich dachte, ich hätt’s schließlich im Griff, als plötzlich der Kerl neben mir anfängt mich anzumachen. Zu meinem ewigen Bedauern bin ich einer von diesen seltenen, nicht-rhythmischen Negern. Ich gerate aus dem Takt zu allen anderen Negersängern von Harlem. Sie schwenken links, ich schwenke rechts. "Wo kommst du denn her? Hat dich die Mama je zur Kirche gebracht?" Nein, aber sie hat mein Tanzen oft verspottet...
Jetzt fängt der ganze Chor an, mich zu verspotten. Es gibt nichts Schmachvolleres als von einer Negergemeinde ausgelacht zu werden. "Donna, können wir es mit diesem steifarschigen weißen Tanzstil versuchen? Ich vermute, das bringt er vielleicht noch!" Später erfuhr ich, dass der Typ Schlagzeuger war. Er versprach, mir ein bisschen Rhythmus beizubringen. Rico McClarrin war sein Name. Nach dem Shooting gingen wir und ein Bassist namens Darryl Taylor noch auf einen Umtrunk. Und es stellte sich heraus, die beiden gehörten zur Königlichen Funk Dynastie: Darryl hat mit Archie Bell and the Drells gespielt. Rico hat mit James Brown gespielt. Nobody can fuck with that.
Quio und ich probten dreimal die Woche. Der unerbittliche Lehrer Sirone, präzise und fordernd, prüfte Quio auf Herz und Niere. Da ich selbst keine musikalische Ausbildung hatte, hatte ich keine Ahnung was da vor sich ging und Sirone hat mich schließlich verschont. Ich war der Spoken-Word Hofnarr--Flava Flav als Gegenspiel zu Quio's Chuck D. In der Zwischenzeit hat Ran ein Lokal gefunden und andere Musiker beauftragt. Ich versorgte ihn mit jpegs von einem Sun Ra Bild, gemalt von P-Funk's Stadtguerilla Pedro Bell. Und er brachte folgenden Flyern heraus:
Sun Ra Über Alles
Saturday/ January 27th, 2007/ 9 p.m.
Zentrale Randlage
Schönhauser Allee 172
Berlin, Bundesland Berlin 10435
SEE/HEAR LIVE TRIBUTES TO SUN RA BY
Quio and Darius James featuring Sirone
SchneiderTM + Lillevän
Kücük Kanarya Arkestra (Moritz Love (Piano) Kücük Kanari (bs) 120bpm (dr) )
Beaux Gosses des Berlin (20-köpfiges klassisches Rumba Monster)
DJ aka Jens Evan
VJ Dr Billig
Boy from Brazil + Brezel Göring (spielen: Sun Ra Uber Alles - Anthem)
Alles war bereit für die nächsten Phase der Operation Sun Ra.
Dann, eine Woche vor der Show, rutschte mir komplett der Boden unter den Füßen weg. An einem Freitagmorgen rief meine Schwester an. Mein Vater sei ins Koma gefallen. Er hatte seit November, seit Thanksgiving 2006 im Krankenhaus gelegen. Jetzt hatten wir Mitte Januar. Ich ging ins Bad und heulte. Ich schwor ich würde in die USA zurückgehen, falls mein Vater es durch diese Krise schaffte, um seine letzten Tagen mit ihm zu verbringen. Die Glühbirne im Badezimmer flackerte und ging aus. Wenige Minuten später rief meine Schwester wieder an und sagte mir, was ich schon wusste. Mein Vater war gestorben. Ich kollabierte auf dem Wohnzimmerboden, erschöpft vor Trauer und heulte auf wie ein verletztes Tier.
Ich hatte lebhafte Erinnerungen daran, wie ich zum ersten Mal mit meinem Vater über den Tod diskutierte. Ich war acht Jahre alt. Ich stellte mir vor, der Tod sei ein ewig andauernder Zustand von Taub-, Stumm- und Blindheit und obendrein die Unfähigkeit zu atmen. Manchmal, bevor ich zu Bett ging, hielt ich den Atem an, schloss die Augen und verstopfte meine Ohren; und dachte, so müsse es sich anfühlen tot zu sein. Wahrscheinlich wäre das Beste daran, dass man nicht riechen müsste wenn der Körper verwest und von Würmen gefressen wird. Das einzige was ich vergaß, war, dass eben auch das Gehirn nicht funktionieren würde. Und es gäbe kein Gedächtnis, keine Gedanken, keine Ideen, keine Träume mehr. Ich dachte, man dächte immer noch weiter bis in die Ewigkeit, der eine schwarze Gedanke führe zum nächsten schwarzen Gedanken und so weiter, während man in einer Kiste unter die Erde lag.
Ich wurde zu einem morbiden Kind. Von Monstern besessen und von der Fäulniss des Todes. Ich schaute Gruselfilme. Ich las Edgar Allen Poe. Ich erzählte "kranke" Witze. Ich wurde zum "Werwolf" bei Vollmond. Wie auch immer, meine Versenkung in der Welt der Groteske tat jedoch nichts, um meine Furcht vor dem Tod zu mildern.
Mein Vater und ich ratterten in einer Tram durch die Straßen von Rom. Wir hatten gerade die Gegend um das Kolosseum durchgekämmt und waren unterwegs zurück zu unser Pension. Ich war ziemlich ausgelassen. Es war ein guter Tag mit meinem Vater gewesen. Er zeigte mir einige Zaubertricks zum Frühstuck; begleitete mich durch die Sixtinische Kappelle und erklärte mir die Malerei. Wir besuchten Jazzclubs. Er stellte mich einer Frau vor, die Zigarre rauchte. Ihr Name war Bricktop.
Keine Ahung, wie ich den plötzlichen Stimmungswandel während der Tramfahrt erklären sollte. Ich fühlte mich düster, allein, angstvoll. Was passiert, wenn man stirbt? fragte ich meinen Vater. Das Gesicht meines Vaters wurde sehr ernst. Er drückte meine Hand und hielt mich fest. Er versuchte meine Furcht zu lindern, er erzählte Geschichten von Jesus, seiner Wiederauferstehung, dem Jüngsten Gericht und der Wiedergeburt in den Königreichen des Himmels. Er erzählte all diese Geschichten mit einer sanften, unaufdringlichen Stimme, als ob er versuchte, nicht nur mich, sondern auch sich selbst davon zu überzeugen. Ich wusste nicht, dass er damals glaubte, ich würde innerhalb eines Jahres sterben.
Als ich mich unter Qualen vom Fußboden in meiner Wohnung erhob, betete ich, dass mein Vater seinen Platz im Himmel gefunden haben möge, ich betete, trotz all dem, was ich auf meinen Exkursionen ins Dunkle und Verbotene gelernt hatte.
Ich flog zurück in die Vereingten Staaten. Und ungeachtet der Tatsache, dass ich an einer Kombination aus Trauer und Kulturschock litt, telefonierten Quio und ich in dieser Woche pausenlos und überlegten, wie meine Abwesenheit bei der Show am Besten zu überspielen sei. Unsere Lösung war schließlich, ein Libretto ans Publikum zu verteilen und das Stück in call and response Manier zu spielen. Nach einer Woche voller zudringlicher Verwandter und aufdringlicher Nachbarn war sie endlich da, die Sun Ra Über Alles Nacht. Und ich war nicht dabei. Das gab meinem Elend nur noch eins drauf. Man sagte mir, viele hätten es toll gefunden. Es spielte eine 20-köpfige, ausgeflippte Rumba-Gruppe. Ghrazi, Brezel und Lillevan gaben extra Biss in die scharfe Sauce. Sirone war dort, wurde aber unglücklicherweise krank. Quio brachte ihn nach Hause. Sie kam traurig zurück zur Zentralen Randlage und fristete den Abend ohne Nuclear War gesungen zu haben.
Eine weitere Woche verging. Die Vereinigten Staaten waren noch verrückter und verdorbener geworden seitdem ich sie verlassen hatte. Das Land war geworden, was Sun Ra zu Beginn von Space is the Place vorausgesagt hatte: “Its after the end of the world! Don't you know that yet?”
Die Konzerne beherrschten das Land. Und die Medienlandschaft wurde von einer Mittelmäßigkeit der schlimmsten Sorte dominiert. Alles hatte sich in eine hässliche Mad Max Kriegszone verwandelt und keiner merkte es. Bevor ich nach Deutschland ging, hatte ich meine Freunde gewarnt, dass die Vereinigten Staaten im Begriff waren, offen faschistisch zu werden. "Deshalb gehe ich nach Berlin. Man riecht doch die Scheiße drei Meilen gegen den Wind."
In Berlin fühlte ich mich sicher, als "Künstler". Ich konnte das ganze ying-yang schreiben und plappern wie ich wollte ohne Angst zu haben, irgendein Schwachkopf in Springerstiefeln würde mir die Tür eintreten. Zwar hat Berlin schon genug heuchlerische Kunstwelt-Schweine, die es verdient haben, in den Bottichen ihrer eigenen Scheiße zu ertrinken, aber, nachdem alles gesagt und getan war, konnte ich tun und sagen, was immer ich wollte. Und das tat ich. Damit handelte ich mir etlichen Ärger ein, aber das war nicht wichtig. Wichtig war die Arbeit. Ich konnte in Berlin auf eine Weise wachsen, wie mir das in meinem eigenen Land nicht möglich gewesen wäre. Das fehlte mir.
Während meiner achtjährigen Abwesenheit waren die Vereinigten Staaten offen faschistisch geworden. Ich fürchtete mich vor der Rückkehr. Meine größte Angst war, in ein stacheldrahtumzäuntes Arbeitslager gesteckt zu werden.
Seit die neuen Heimatschutzgesetze in Kraft getreten sind und jeder neue Irrsinn zur patriotischen Tat erklärt wurde, erschien so etwas jeden Tag mehr und mehr in den Bereich des Möglichen zu rücken. Und jetzt war ich hierher zurückgekommen.
Ich bekam eine unerwartete E-mail. Es war eine Einladung, ein Konzept zu erstellen für etwas, was das Wörterbuch des Krieges genannt wurde. Ich war eingeschüchtert. Was konnte ich zu einem Forum, an dem solche Schwergewichte wie Sylvère Lothringer teilnahmen, beitragen? Dieser Mann war der Seelenklempner von Artaud! Ich bin ein Hofnarr! I can't even think about fuckin' with that!
Dann hat es mich erwischt. Sun Ra. Nuclear War.
Es geht los! Ich rief Quio an. "Ich komme zurück! Wir spielen Nuclear War! We're gonna turn that Motherfucker out!" Das nächste war, meinen Boy anzurufen. Das ist Jon Evans. Ich lernte Jon durch meinen Freund Mark Friedlander kennen ("Mark Zero" für Kenner der Anti-Folk Bewegung) als er in Berlin war. Jon ist einer seltenen Spezies, die Genie und Wahnsinn vereinbaren können. Er ist aus Sydney, Australia. Komponiert und performt elektronische Musik. Kommt aus der frühen Szene der industrial music. Hat eine Menge Sachen mit der industrial band S.P.K. gemacht. Er spielte Synthesizer; er war wie gemacht für das Sun Ra Projekt.
Das neue Projekt brauchte ein neues Ensemble. Ich wollte Rico und Darryl dabei haben.
Dank Ben Wolfs Engagement bekam ich sie auch. Ben wird auch mitspielen. Dauerhaft. Wir werden die Details besprechen wenn ich in Berlin bin.
2007 Darius James
Aus dem Amerikanischen von Jon Evans und Agnes Grambow